0936 - Schattentheater
Sie klang einige Tonlagen höher, als sie ihre nächste Frage stellte. »Ein Miniaturabbild der Natur sagen Sie? Dann haben Sie diesen Garten also nach einem realen Vorbild gestaltet?«
»Das habe ich, ja. Das Vorbild für die Bucht und die Sandbank befindet sich in der Präfektur Kyoto, an der Nordküste der Insel Honshu am Meer.« Er deutete mit der Hand an, dass die Französin die winzige Sandbank gern betreten durfte, wenn sie das wollte. Julie Deneuve zögerte einen Augenblick lang und betrat die kleine Landbrücke dann mit zitterndem Schritt. »Eine schöne Geschichte, die sich um diese Landschaft dort rankt«, fuhr Ieyasu-san fort. »Angeblich haben die beiden Schöpfer-Kami, Izanagi und Izanami, dort auf dieser Sandbank bei Miyazu am Japanischen Meer gestanden, als sie Japan und den Rest der Welt gestaltet haben. Daher nennt man sie auch Ama-no-ukihashi, die schwimmende Brücke zum Himmel, die das Land der Götter, das Takama-no-hara, mit der Welt der Sterblichen, dem Ashihara-no-naka-tsukuni, verbindet.« Damit zeigte er auf zwei kleine Götterstatuen, die auf einem winzigen zum See hin weisenden Sandstrand standen und den Rest des Gartens betrachteten.
Julie Deneuve nickte und schien vom Anblick der beiden Statuen und der liebevoll angelegten Sandbank ganz eingenommen. Sie machte jetzt einen völlig geistesabwesenden Eindruck. Ohne zu wissen, warum, war Minamoto-san für einen Moment versucht, nach vorn zu stürzen und sie von Ieyasu fortzureißen.
Doch noch während er überlegte, was man tun konnte, hatte die junge Frau sich wieder im Griff. »Ich bin stets fasziniert vom Anblick japanischer Gärten«, meinte sie mit betont fröhlicher Stimme und strahlte den mit stolzgeschwellter Brust dastehenden Theaterdirektor an. »Minamoto-san hat mir vorhin schon angeboten, er würde mir gern die kaiserlichen Gärten hier in Tokio zeigen, da gerade die Kirschen blühen.«
Ieyasu ging begeistert darauf ein und spazierte weiter.
Minamoto sah noch einmal nachdenklich auf die beiden kleinen Götterstatuen hinunter und dann auf die Felswand mit dem Wasserfall hinter ihm. Hinter der Gischt schien für einen Moment eine kleine, schwarze und gedrungene Figur zu stehen, die eine goldene Scheibe vor ihren Bauch hielt. Doch als Minamoto genauer hinsah, war hinter dem Wasserfall außer den Myriaden in der Sonne glitzernder Wassertropfen nichts zu erkennen.
Minamoto-san zuckte mit den Achseln und folgte Julie und dem Theaterdirektor, die die Landbrücke bereits verlassen hatten. Im nächsten Moment hatte er den Eindruck auch schon wieder vergessen.
Warum hätte Iyeasu Koichi auch eine Winkekatze hinter einem Wasserfall verstecken sollen…
***
Nicole war überrascht, als das Taxi mit Minamoto und ihr vor einem geradezu winzigen überdachten Tor in einer schmucklosen grauen Mauer stehen blieb.
Auch wenn ihr Spesenkonto nicht gerade die Fürstensuite im Four Seasons erlaubte, mehr als eine einfache Pension hatte sie schon erwartet. Anscheinend sah man ihr die Überraschung auch an, denn Minamoto-sans Mundwinkel begannen zu zucken. »Madame, ich sehe Ihnen an, Sie sind überrascht«, sagte er und drückte die Klingel, die kaum sichtbar neben dem hölzernen Tor in die Mauer eingelassen war. »Aber ich dachte, es würde Ihnen Freude machen, in einem traditionellen japanischen Gasthaus zu übernachten. Es gehört der Schwester meines verstorbenen Vaters, und ich hoffe sehr, Sie werden sich in ihrem ryokan wohlfühlen.«
Nicole sah Minamoto-san überrascht an. Damit hatte sie wirklich nicht gerechnet. Ein Urlaub mit einem Quasi-Familienanschluss , dachte sie beeindruckt und wollte sich schon bedanken, als die Tür von einem Angestellten geöffnet wurde. Nicole staunte.
Was von außen vollkommen unscheinbar ausgesehen hatte, sah von innen so sauber und gepflegt aus, dass sie vom ersten Moment wusste, wie wohl sie sich fühlen würde.
Durch einen gut in Schuss gehaltenen Garten, dessen Kirschblüten im Mittagslicht rosa leuchteten, ging es einige Stufen hinauf zu einem traditionell japanisch gebauten Haus. Hinter der offen stehenden Schiebetür war ein winziger Eingangsbereich, hinter dem etwas erhöht der mit vor Alter dunklen Holzbohlen ausgelegte Flur begann. Auf dem Boden kniete eine ältere Dame in einem dezent violett gemusterten Kimono. Sie verneigte sich vornehm aber respektvoll vor Nicole.
» Yoku irasshaimashita , Madame«, meinte sie höflich. Nicole verneigte sich ebenfalls und murmelte konichiwa . Dass sie
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