0936 - Schattentheater
Mensch aufmerksam geworden und über es gekommen war, hätte der Dämon, der sich ähnlich von seinem Opfer ernährte wie CHAVACH sich von ihm, dem Menschen vor Schreck beinahe auch den letzten Funken Lebenswillen genommen.
CHAVACH verachtete die Schwäche, die der Dämon damit gezeigt hatte, zutiefst. Doch im Grunde kümmerten ihn die Pein und die Wut des Dämons darüber, dass er sich seiner bemächtigt hatte, nur insoweit, als dass sie die Energie, die CHAVACH ihm abziehen konnte, potenzierten. Der namenlose Dämon wehrte sich pausenlos dagegen, von CHAVACH so benutzt, so ausgenutzt und gequält zu werden.
Wie sich auch Alphonsine und der andere, der Fotograf unter dem Turm aus Stahl, und alle vor ihnen gewehrt haben , dachte CHAVACH entzückt. Nur viel stärker. Wieder brüllte der Dämon auf einer anderen Ebene als der menschlichen auf und schrie seine Wut darüber, dass er nun selbst einem Parasiten zum Opfer gefallen war, in die andere Dimension hinaus. Zufrieden lachte CHAVACH und wickelte sich noch einmal fester um ihn.
Als sich der Dämon wieder aufbäumte, nahm er noch einen tiefen Schluck der wunderbaren Energie, ohne seinen Griff zu lockern. Und noch einen.
Immer auf der Hut, dass genügend Energie übrig blieb, um das Wesen, in dem er und der Dämon saßen, mechanisch seinen Alltag durchleben zu lassen…
***
Am nächsten Morgen beschloss Nicole, nach einem ausgiebigen, wenn auch etwas seltsamen Frühstück mit Kaffee, Buttertoast und einer Fischsuppe mit Algen eine kurze Stadttour zu machen, bevor sie gegen Mittag wieder im Kokuritsu-Theater mit Minamoto verabredet war.
Immerhin hatte man ihr die Kirschblüte empfohlen. Sie genoss das frische Frühlingswetter und die Ausstellung des Nationalmuseums und kam danach durchaus energiegeladen und aufgeräumt im National-Nô-Theater an. Minamoto saß bereits im Theatersaal bei einer Probe.
Nicole betrachtete die Szenerie. Zwei Schauspieler übten offenbar auf der Bühne eine Choreografie ein. Ein Kampf? , fragte sie sich. Eine der beiden Rollen war anscheinend so etwas Ähnliches wie ein Dämon, sein Gewand blauweiß, mit rotem Wappen auf der Brust und kaum weniger zotteligen Haaren auf dem Kopf, als der Dämon alias Ieyasu sie gestern noch getragen hatte.
Immerhin spielen sie da nicht die alte Einsiedlerin, also hatte Minamoto offenbar endlich Erfolg damit, Ieyasu umzustimmen , dachte Nicole. Aber wenn man sich diese Gestalt so ansieht, dann hat man kaum den Eindruck, hier ginge es um etwas weniger Unheimliches.
In diesem Moment ärgerte sie sich über sich selbst. Koichi Ieyasu stand im Verdacht, dass in ihm ein Dämon wohnte. Sie hätte ihn nicht aus den Augen lassen dürfen! Der Shinigami lenkt mich ab - etwas, was nicht passieren dürfte. Die Leichtigkeit, mit der ich auf einmal hier lebe, lenkt mich ab! Nicole nahm sich vor, an CHAVACH und den Shinigami erst wieder zu denken, wenn diese Sache mit Ieyasu über die Bühne gegangen war. Wir dürfen nicht noch mehr Menschenleben riskieren.
Nun, sie konnte nur hoffen, dass bisher nichts weiter Schlimmes passiert war, geschweige denn ein weiterer Dämonenmord. Die hatten immer nur am Abend stattgefunden und stets einem bestimmten Ritual folgend. Und , beruhigte sie sich zusätzlich, Minamoto ist ja auch schon seit einiger Zeit hier. Sie glitt vorsichtig neben Minamoto in eine Stuhlreihe und begrüßte ihn leise.
»Ah, Madame Deneuve!«, sagte Minamoto erfreut. »Wie schön, dass Sie da sind! Ich habe gute Neuigkeiten. Ieyasu hat sich tatsächlich bereit erklärt, die Alte Einsiedlerin abzusetzen und mit seinen Kollegen ein neues Stück einzuüben.«
Nicole betrachtete die blauweiß gekleidete Gestalt genauer, die sie wegen der unfrisierten langen Haare und den heftigen Bewegungen mit dem Schwert an einen Waldschrat denken ließ. »Entschuldigen Sie, Minamoto-san, aber für mich sieht es so aus, als hätte Ieyasu nur einen Dämon gegen einen anderen eingetauscht.«
Minamoto lachte leise. »Madame, bei dieser Figur handelt es sich um den Sturmgott Susanoo. Sie sehen gerade die Szene, in der er die achtgabelige Schlange besiegt. In der toten Schlange wird er ein Schwert finden, das er dem Großvater des Jimmu-Tenno, dem ersten Kaiser Japans, übergeben wird. Es ist eines der drei Reichsinsignien des japanischen Kaisertums.«
Nicole spürte einen Stich. Die Zufälle in diesem Land nahmen überhand. Sie hatte lange überlegt, was sie mit dem Vormittag anfangen sollte und sich dann schließlich fürs
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