0937 - Belials Mordhaus
lebst?«
»Klar, ich lebe, Mutter. Warum sollte ich nicht leben? Ist etwas geschehen?« Ich bemühte mich, meiner Stimme einen lockeren und völlig normalen Klang zu geben. Da hörte ich bereits die nächste Frage der alten Dame.
»Du bist wirklich okay? Geht es dir auch gut?«
»Ja, es geht mir gut.« Meine Furcht schwand. Auch wenn die Mutter nicht normal sprach, ihre Stimme zitterte und vibrierte, so glaubte ich doch daran, daß sich die Dinge wieder regeln würden.
»Was ist denn, Mutter? Welche Probleme hast du? Warum rufst du an? Da ist doch etwas geschehen…?«
Eine kurze Pause. Dann: »Ja, das ist es auch. Es ist etwas geschehen, mein Junge.«
»Okay, erzähle es mir.« Ich hatte Platz genommen und sah, daß mich Suko und Shao beobachteten.
Sekunden später war ich froh, auf meinem Hinterteil zu sitzen, denn die nächste Frage meiner Mutter hätte mich beinahe umgeworfen.
»Du - du hast doch noch deinen Kopf - oder?«
Ich schwieg, lange, zu lange, denn meine Mutter wiederholte die Frage.
»Mal ganz ruhig«, sagte ich. »Reiß dich bitte zusammen und denke darüber nach, was du gefragt hast.«
»Das weiß ich schon, John.«
»Du wolltest etwas über meinen Kopf wissen. Ich habe ihn, es ist noch alles vorhanden, die Augen, die Ohren, die Nase, der Mund, sonst könnte ich ja nicht mit dir reden.«
Auch Shao und Suko begriffen nicht, was das alles sollte. Sie schauten mich weiterhin an, hoben die Schultern und sahen aus, als wüßten sie nicht, ob sie lachen oder weinen sollten.
»Bitte, John, auch wenn es verrückt klingt, ich bin weiß Gott nicht durchgedreht.«
»Das glaube ich dir, Mutter.«
Sie atmete tief ein, was ich sehr deutlich mitbekam. »Ich habe nicht grundlos danach gefragt. Der Kopf - ähm, ich meine dein Kopf - also - ich habe ihn…«
»Langsam, Mutter, langsam.«
»Unterbrich mich bitte nicht, John!« Ihre Stimme schrillte jetzt mehr. Ein Beweis, daß sie leichte Probleme bekam.
»Schon gut, Mutter, sorry. Rede weiter.«
»Ich habe deinen Kopf gesehen. Deinen blutigen Kopf. Er - er lag bei mir. Bei mir im Haus. Bei mir in der Küche.« Sie redete jetzt schneller. »Bei mir im Kühlschrank, verstehst du? Und er war blutig, widerlich blutig…«
Ich sagte nichts. Ich starrte ins Leere, aber ich hatte alles verstanden und gehört, auch das Schluchzen, das die letzten Worte meiner Mutter begleitet hatte.
Der Fluch der Sinclairs. Plötzlich kam mir dieser Satz wieder in den Sinn. Es lag zwar einige Monate zurück, daß ich mit ihm konfrontiert worden war, aber da war es auch haarscharf um mein und um das Leben meiner Eltern gegangen. Da war etwas aus der Vergangenheit hochgewühlt worden, eben der Fluch meiner Ahnen.
»Blutig…?« flüsterte ich.
»Ja, blutig, John. Und ich habe ihn gesehen. Du kennst den Kühlschrank bei uns im Haus. Dein Kopf lag genau in der Mitte. Ich habe die Tür geöffnet, ich sah ihn liegen, und es war einfach grauenhaft, wenn du verstehst. Einfach schlimm.«
»Ja, Mutter«, murmelte ich, »das verstehe ich. Das verstehe ich sogar sehr gut.«
Sie fing an zu weinen. Ich mußte sie trösten, was mir nicht leichtfiel, denn ich konnte mir einfach nicht vorstellen, daß mein Kopf im Kühlschrank gelegen hatte.
Schließlich, als sie sich wieder gefangen hatte, bat ich sie, den Vater ans Telefon zu holen.
»Der ist nicht da.«
»Was?« Ich war plötzlich besorgt. »Ist er…?«
»Nein, nicht für länger, John. Er trifft sich im Rathaus mit einigen anderen. Er wird bald wieder hier erscheinen.«
»Das ist gut.«
»Du glaubst mir nicht, wie?«
»Ich weiß nicht, was ich dir glauben soll. Aber du hast wirklich meinen Kopf gesehen?«
»Ja«, erwiderte sie. »Ja, ich habe deinen Kopf gesehen. Das ist komisch, wie?« Sie fing plötzlich an zu lachen.
Nur klang es überdreht und gefiel mir ganz und gar nicht. »Ich habe ja auch an einen Irrtum gedacht, und jetzt weiß ich nicht mehr, was ich noch alles denken soll, John. Ich habe nämlich ein zweitesmal nachgeschaut, als ich mich wieder erholt hatte. Da war er nicht mehr da. Er war weg, verschwunden. Ein völlig normaler Kühlschrank, glaub mir.«
»Noch mal.«
»Bitte, John, ich habe es dir doch gesagt.«
Das hatte sie. Aber ich wollte, daß meine Mutter ruhiger darüber sprach, und es gelang mir auch, sie auf diesen Weg zu bringen. So wiederholte sie ihre Erlebnisse, und zum Glück war sie glücklich darüber, daß ich noch lebte, aber sie blieb dabei, daß sie meinen Kopf im Kühlschrank gesehen
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