094 - Das Mädchen auf dem Teufelsacker
Versuch, sich zu befreien; doch selbst unter normalen Bedingungen hätte sie niemals die Kraft aufgebracht, sich Lillehammers eisernem Griff zu entwinden - geschweige denn jetzt.
„Um Ole Fjellstue ist es ohnehin nicht schade", sagte Arnes Frau mit kalter Stimme. „Außerdem könnten wir, selbst wenn wir wollten, nichts mehr für ihn tun."
Irrsinn, dachte Laeibe Vestre. Alles Irrsinn. Eine feurig lodernde Schranke schien sich vor ihr niederzusenken. Sie glitt auf und ab, verbog sich, hüllte Laeibe ein. Dann kam die Bestätigung, daß das Gesehene zu grauenvoll war, um von ihrem Geist verkraftet werden zu können. Für Laeibe versank alles in erlösender Finsternis.
Coco Zamis, Abi Flindt und Hideyoshi Hojo waren durch die Bundesrepublik Deutschland auf der Europastraße 4 bis nach Puttgarden auf der Insel Fehmarn gereist, hatten die Fähre genommen und waren schließlich bis nach Kopenhagen gefahren. Hier hatten sie endlich eine Flugverbindung bekommen. In Oslo hatten sie übernachtet, um am folgenden Tag nach Kvalöy weiterzufliegen. Dort hatten sie gezwungenermaßen wieder den Landweg wählen und mit einem Geländewagen nach Russenes reisen müssen. Die Fähre hatte sie nach Honnigsvag gebracht - die Hauptstadt der Insel Mageröya. Sie hatten sich umgehört und schließlich von dem Auftauchen der rätselhaften Wolke über Tingvoll gehört.
Abi Flindt hatte sich sofort nach einer Fahrzeugvermietung umgeschaut. Sie ergatterten ein Kettenfahrzeug - eine Art Kombination aus Jeep und Bulldozer. Nichts war geeigneter für die Schneelandschaft des Nordens. Auch ein Mann, der sich mit der Handhabung des Untersatzes auskannte, ließ sich auftreiben. Er hieß Edvard, war mittelgroß, dicklich und sehr redselig.
Gegen Mittag brachen sie in Honnigsvag auf, und gegen sechzehn Uhr befanden sie sich nur noch wenige Kilometer von dem als Nordkap bezeichneten Küstenzipfel der Inselentfernt, die noch nördlich von Hammerfest lag und gleichsam wie das Ende der Welt anmutete.
„Tingvoll liegt in westlicher Richtung", verkündete Edvard. Er wandte Abi sein schwammiges Gesicht zu und blickte plötzlich besorgt drein. „Also, wenn Sie einen Rat wollen: Bleiben Sie dem verflixten Nest fern! Es ist verflucht. Keiner traut sich mehr hin. Die Wolke hat den Schnee schmelzen lassen und fürchterliches Unheil gebracht."
„Welche Art von Unheil?" wollte Abi Flindt wissen.
Edvard, der Fahrer, hob die Schultern. „Da bin ich überfragt. Wir Leute von Mageröya wissen nur, daß in Tingvoll was nicht stimmt. Genaues kann natürlich keiner von uns berichten, denn, ich erwähnte wohl schon, von uns traut sich da keiner mehr hin."
Hideyoshi Hojo stoppte seinen Redefluß. „Ich wundere mich, daß von behördlicher Seite noch nichts unternommen wurde, um Licht in die Angelegenheit zu bringen."
„Also, das ist so", erwiderte Edvard sofort. „Die Mühlen der Verwaltung mahlen langsam. Das kennen Sie wohl auch, nicht wahr? Und die Insel hat so ihre Eigenheiten. Zunächst mal ist die Gemeinde Tingvoll für sich selbst verantwortlich. Wenn sie Hilfe von außen will, muß sich schon jemand wie der Bürgermeister oder der Polizeichef an Honnigsvag wenden. Das ist bisher nicht geschehen." „Verstehe", sagte der Japaner. „Man hat hier eine sehr phlegmatische Art, auf die Dinge zu reagieren. "
Das Kettenfahrzeug arbeitete sich über hügeliges Gelände. Die Schneedecke auf den Kuppen und Hängen erinnerte an eine riesige, weiße Watteschicht. Bald ließ sich jedoch ein dunstiger Fleck in der Landschaft ausmachen, etwa acht bis zehn Kilometer entfernt. Von einem erhöhten Aussichtspunkt aus vermochten die Freunde deutlich farbige Fragmente zu erkennen, die sich schwach unter dem nebligen Feld abzeichneten.
Der dicke Edvard brachte das Kettenfahrzeug zum Stehen. „Da! Das ist Tingvoll. Jetzt sehen Sie's ja selbst, daß ich Ihnen keine Märchen erzählt habe. Die Wolke ist da, und unter ihr ist's warm wie im Frühling."
„Woher mag sie nur kommen?" erkundigte sich Coco.
Absichtlich tat sie ein wenig unbedarft, denn einen Mann wie Edvard konnte eine solche Verhaltensweise zum Reden animieren.
„Ich glaube, ich weiß es", entgegnete er auch gleich mit Verschwörermiene. „Nahe der Steilküste - dort drüben hinter dem Städtchen liegt sie, sehen Sie - steht die Ruine einer Kapelle. Schon die gilt als verwunschener Ort, und die Bürger von Tingvoll meiden den Platz. Aber etwas oberhalb, ein paar hundert Meter in nordwestlicher Richtung,
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