0944 - Die Brücke zur Anderswelt
Souvenirs und als Flöten. An Ständen verkauften Geschäftsleute Süßigkeiten, Karotten, Radieschen und anderes Gemüse in Penisform, das unter großem Hallo gegessen wurde. Eines war aus einem bläulichen Kristall gemacht, der dem ihres Dhyarras so täuschend ähnlich sah, dass sie ihn unwillkürlich aus der Tasche zog und verglich.
Nicole ließ sich weiter treiben. An einem Stand sah sie winkende Katzen, die ebenfalls mit dem Symbol kraftstrotzender rosaroter Männlichkeit versehen waren. Sofort kam ihr wieder die Maneki Neko in den Sinn. Sie hatte die Bekanntschaft dieses machtvollen magischen Wesens, das gegenüber Menschen in Gestalt des populären japanischen Glücksbringers auftrat, einst in Wien gemacht. Die Französin schaute bei Travestie-Shows zu, die es zu Dutzenden gab, und beobachtete die angehenden Geishas, die ihre bereits erlangten Fingerfertigkeiten demonstrierten. Dabei sah sie plötzlich ihren »Schatten« wieder!
»Ich glaub es nicht«, flüsterte Nicole und spürte Zorn in sich hochsteigen. Der Mann stand bei den Trägern, die gerade das Gerüst mit dem stählernen Phallus hochhievten, um ihn durch die Straßen zu tragen. Er unterhielt sich angeregt mit einer jungen, hübschen Frau.
Die Französin konzentrierte sich auf ihn und versuchte, seine Gedanken zu lesen. Doch sie konnte keinen Kontakt herstellen. Es war, als glitte ihr ein glitschiger Fisch immer wieder aus den Fingern.
»Dann eben anders.« Nicole schaute, dass sie den Mann nicht aus den Augen verlor, und versuchte sich ihm so unauffällig wie möglich zu nähern. Dabei kam sie an einer Gruppe finster aussehender Männer vorbei, die Tätowierungen auf Armen und Schultern hatten und von den anderen Besuchern anscheinend gemieden wurden. Sie spürte sezierende Blicke zwischen ihren Schulterblättern.
Versucht's erst gar nicht, Jungs , dachte sie. Sonst müsst ihr euch die Dinger hier ersatzweise umschnall… Natürlich. Yuuki. Unwillkürlich schlug sie sich ob der plötzlichen Erkenntnis gegen die Stirn. Das ist Yuuki. Ich muss vernagelt gewesen sein. Sie spürte, wie ihr eiskalte Schauer über den Rücken liefen. Aber kann das wirklich sein? Eigentlich unmöglich. Solche Zufälle gibt's nicht. Ich krieg hier gleich die Krise!
Nicole starrte ihren Verfolger unbeabsichtigt an und wollte ihm gerade winken. Doch der schien ihre Absicht zu ahnen und tauchte mit der Frau im Gewühl unter. Nicole versuchte dran zu bleiben, aber es war sinnlos. Über eine Stunde suchte sie die Menge, die jetzt hinter dem Schrein her durch die Straßen zog, nach dem Mann ab, dann gab sie es auf.
Noch immer war sie verwirrt. »Wahrscheinlich mache ich mich wegen einer Ähnlichkeit verrückt«, murmelte sie. »Die Maneki Nekos haben ganz einfach falsche Assoziationen in mir ausgelöst. Das war's und Punkt.« Allerdings traute Nicole ihrer abschließenden Analyse nicht so richtig über den Weg, denn ein Gefühl des Unbehagens blieb.
Am späten Nachmittag lief sie Minamoto über den Weg und steckte ihm 2000 Yen in seine Sammelbüchse, wofür er sich überschwänglich bedankte. Im Gegenzug lud er Nicole zum Essen in ein nahes Restaurant ein. Die Französin, die Appetit auf etwas Herzhaftes hatte, nahm die Einladung sofort an. Sie gingen ein paar Straßen weiter. Vor einem alten, dreistöckigen Holzhaus, an dem eine bunte Reklame prangte, blieben sie stehen.
»Ist traditionelle japanische Küche für Sie annehmbar, Madame Deneuve?«
»Aber natürlich, Minamoto-san. Ich freue mich schon drauf.«
»Gut. Wundern Sie sich bitte nicht über den etwas schäbigen Eingangsbereich. Das Essen schmeckt fantastisch.«
Nicole und Minamoto betraten das Haus. Ein enges, muffeliges, von zwei trüben Birnen beleuchtetes Treppenhaus empfing sie. Die Birnen hingen über einem Kleiderbügel, den man als behelfsmäßigen Halter aufgehängt hatte. Über eine schmale, wenig vertrauenerweckende Holztreppe stiegen sie nach oben. Dort gab es eine Art Galerie mit dem reich verzierten Durchgang in das Restaurant.
Die untere Eingangstür öffnete sich erneut. Vier Männer traten ein. Nicole, die von der Galerie nach unten schaute, kannte sie. Es waren die Tätowierten. Raschen Schrittes stiegen sie die Treppe hoch.
Auch Minamoto hatte sich umgedreht. »Yakuza«, flüsterte er. »Am besten lassen wir sie vorbei, dann gibt's keinen Ärger.«
Doch die Tätowierten gingen nicht vorbei. Sie blieben vor Nicole und Minamoto stehen und starrten sie tückisch an.
Gefahr! , signalisierte
Weitere Kostenlose Bücher