0947 - Geballte Wut
Rhett schließlich. Es klang nahezu kleinlaut. »Einfach nur meine Ruhe haben und mit ihr das Leben genießen.«
»Alt werden, soso«, sagte Dylan und grinste verschmitzt. »Kannst du das überhaupt, Erbfolger? Oder deine Perle?«
Rhett boxte ihm gegen den Arm. »Metaphorisch gesprochen, du Nase!«
Dann waren sie an ihrem Ziel. Das Lyoner Polizeigebäude war ein breiter Kasten - mehr Zweckbau denn architektonisches oder ästhetisches Glanzstück. Hinter ausladenden Fensterfronten arbeiteten unzählige Beamte daran, die Stadt an der Rhone sicherer zu machen. Einer von ihnen war Pierre Robin.
Ein anderer begrüßte Zamorra und seine Begleiter am Eingang. » Monsieur le professeur «, sagte der schmächtige Bursche mit dem modischen Kurzhaarschnitt und dem tadellos sitzenden dunklen Anzug überrascht und reichte Zamorra die Hand. »Roger Richter, stellvertretender Assistent des Chefinspektors. Was führt Sie zu uns?«
Mit wenigen Worten umschrieb der Meister des Übersinnlichen, weswegen sie gekommen waren.
Richter, der ihnen absolut zufällig über den Weg gelaufen sein musste, nickte geduldig, doch hinter seinen Augen arbeitete es. »Verstehe. Nun, Monsieur, ich fürchte, die Mühe haben Sie sich umsonst gemacht. An Mademoiselle Crentz' Schuld besteht für uns kein Zweifel. Die Ermittlungsergebnisse der Pariser Kollegen sind eindeutig, von daher existiert für den Chefinspektor kein Grund, Zivilisten zurate zu ziehen. Erst recht nicht, wenn diese aus dem unmittelbaren Umfeld der potenziellen Täterin stammen.«
Zamorra schmunzelte. »Sie unterstellen uns Parteinahme«, murmelte er. »Schön. Wenn Sie jetzt bitte Pierre mitteilen, dass wir hier sind?«
Im gleichen Moment riss Rhett der Geduldsfaden. »Was soll der Scheiß, he?«, fuhr der Erbfolger den Polizeibeamten an. »Natürlich sind wir auf Kathrynes Seite! Immerhin wissen wir genau, dass nicht sie hinter…«
Zamorra fiel ihm ins Wort. »Dafür ist später noch Zeit, Rhett!« Der tadelnde Tonfall des Professors ließ keinen Zweifel daran, dass der Junge sich verplaudert hatte. Rhett verstummte sofort, doch der Dämonenjäger sah, wie sehr es in ihm brodelte.
»Monsieur Richter«, versuchte es Zamorra erneut. »Ich habe Ihnen gesagt, weswegen wir gekommen sind. Bitte, bringen wir es hinter uns.«
Richter seufzte. »Wenn's nach mir ginge, könnten Sie und ihre Begleiter gleich wieder kehrt machen, das sag ich Ihnen. Aber der Chefinspektor hat angeordnet, Sie vorzulassen, sollten Sie je hier auftauchen. Mir scheint, er hat damit gerechnet. Wenn Sie mir folgen würden?«
Wenige Minuten später öffnete er ihnen die Tür zum Medienraum.
***
Überall war Blut. Es klebte an den Wänden, lief sturzbachgleich über den Boden - ein roter Strom vergehenden Lebens. Relikt der Gewalt. Zamorra sah auf den Monitor und strich sich gedankenverloren übers Kinn.
Die Filme ähnelten sich wirklich. Zwei Morde, brutal und allem Anschein nach unmotiviert, geschehen an ein und demselben Ort. Und zumindest Film eins ließ an der Identität des Täters keinen Zweifel.
Papier raschelte, als Pierre Robin den Computerausdruck des Standbildes raussuchte und ihn vor Zamorra auf den Tisch schob. Annes wutverzerrtes Gesicht, ihr irrer Blick, ihr verzogener Mund - das war Hass. Purer, ungezügelter Hass.
Auf uns? Reagiert sie da draußen ab, was ihr durch Krychnak und alles, was auf ihn folgte, widerfahren ist? Falls das zutraf, trug er tatsächlich irgendwo Mitschuld an ihrem Tun. Dann hatte Rhett recht. Kein schöner Gedanke.
»Sag's mir, Zamorra«, bat Robin leise, nachdem die letzte Aufnahme geendet war - die, in der der sterbende Tourist seinen Helfern den Namen von Zamorras Behausung ins Ohr geflüstert hatte, als läge in ihm die Antwort auf die Frage nach dem Sinn seines Todes. Der Zeigefinger des Chefinspektors tippte sanft auf den Ausdruck. »Ist das oder ist das nicht deine Bekannte Kathryne Crentz?«
Irgendwo hinter sich hörte der Professor Rhett schnauben.
Zamorra sah den Chefinspektor lange an. Dann sagte er: »Ich fürchte, diese Frage lässt sich nicht so einfach beantworten, wie du denkst.«
Und er begann zu erzählen.
***
Befehlskette hin oder her - es gab für alles Grenzen. Und dies, daran bestand für ihn kein Zweifel, überschritt sie. Um Längen!
Roger Richter verstand die Welt nicht mehr. Nicht nur, dass man ihm auftrug, nachweislichen Bekannten einer überführten Mörderin freien Zugang zu vertraulichen Informationen der Lyoner Polizei zu
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