0947 - Geballte Wut
behagte.
Das Verkehrsaufkommen auf dem Boulevard war erträglich gering und auch die Menge an Passanten überschaubar, sodass Zamorra und seine Begleiter den Eingang der Metro-Station, in der sich Annes Spur verlor, schon fast erreicht hatten, als ein markerschütternder Schrei sie plötzlich innehalten ließ.
***
Die Welt war da, und doch fühlte er sich mit einem Mal, als sei er von ihr getrennt und könne sie nur durch eine Wand aus Gaze wahrnehmen. Alle Sinneseindrücke waren gedämpft, fast ganz unterdrückt, und Zamorra empfand nichts mehr, hörte nicht einmal seinen eigenen Schmerzensschrei - sondern nur den Ruf!
In seinem Geist… seiner Seele… Nein, sein gesamtes Wesen schien seinen Namen zu schreien! Jede einzelne Pore seiner Haut, jede Zelle seines Körpers war ein einziges, ein lautes ZAMORRA!, und ließ ihn zusammenfahren. Knochen knackten, Zähne bissen aufeinander, und eine unbeschreiblich starke Übelkeit schoss ihm in die Innereien und schien seinen Magen auf links zu drehen.
Hörten die anderen das? Empfingen auch sie diese seltsame Botschaft von… ja, von wem? Von wo? Und würde sie je wieder enden?
Zamorra sah in ihre besorgten Gesichter. Sah, wie sich Rhett, Kathryne und Dylan zu ihm umwandten und ihm mit ausgebreiteten Armen entgegeneilten. Doch es war zu spät. Das wusste er plötzlich mit trauriger, definitiver Gewissheit. Es war vorbei, und er würde nie erfahren, was ihn in die Knie gezwungen hatte.
Die Welt vor seinen Augen wurde zum Wirbel, ein sich immer schneller drehendes Karussell aus Farben und Schemen, in dem es kein Halten und keine Konstanz mehr gab. Zamorra stürzte in diesen Wirbel! Das Letzte, was seine Ohren erreichte, bevor sein Kopf auf das kalte, harte Straßenpflaster des Boulevard du Palais schlug, war der entsetzte Warnschrei des Erbfolgers.
Dann wurde es dunkel.
***
Stille.
Und darin: ein Raum.
Dunkle Holzvertäfelung an den hohen Wänden, kunstvoll gefertigt und mit eingeschnitzten Ornamenten versehen, Handarbeit. Die zwei breiten Fenster mit fingerdickem Brokatstoff verhangen, durch den kaum ein Lichtstrahl mehr ins Innere fiel. Eichenregale ringsum, auf deren Brettern unzählige Folianten den Schlaf der Ungenutzten schliefen - Bücher, deren Einbände so brüchig und deren Seiten so vergilbt und moderig waren, dass sie älter zu sein schienen als die Zeit selbst.
Hinter dem ledernen Ohrensessel, der auf einem dunkelroten Läufer in der rechten hinteren Ecke des Raumes stand, war ein Emblem in die Wand gelassen, als handele es sich dabei um das Porträt eines geliebten Patriarchen: ein flaches Oval, in dem zwei von der vorderen linken Seite kommende, parallel verlaufende rote Linien in geschwungenem Bogen einem gemeinsamen Fluchtpunkt hinten rechts entgegen strebten.
Die nach altem Pfeifentabak, teurem Portwein und dem Mief vergangener Dekaden riechende Luft lag schwer über den Einrichtungsstücken und verlieh dem ohnehin nicht sonderlich lebendig wirkenden Raum die Atmosphäre eines »Herrenzimmers«, viktorianischer Art, eines privaten Klubraums nur für Initiierte.
Stille.
Und darin: zwei Stimmen.
Die erste, die erklang, war schwach. Krächzend. Worte, wie Sandpapier auf einem unbehandelten Stein. »Er ist hier, Léon«, sagte sie, und jeder Ton musste ihr ein Kampf sein.
Kennen wir sie nicht? Haben wir sie nicht schon einmal vernommen?
Egal. Zeit verging. Irgendwo tickte eine Uhr, als wolle sie dies bestätigen, mahnend und tadelnd, doch die Einheiten, die sie maß, hatten zwischen den holzverkleideten Wänden längst jegliche Bedeutung verloren.
Wieder die Stimme: »Meinst du wirklich, dass er den Unterschied bewirkt?«
Keine Antwort. Staub redet nicht.
Ein Mann erhob sich mühsam aus den Schatten rechts an der Wand und trat ins Zentrum des Zimmers, wo ein rundes, zinnwannenähnliches Gefäß auf dem überraschend gepflegten Bodenparkett stand. Der Mann war alt, gebrechlich.; Wirres weißes Haar über einem schmalen, von Falten und Altersflecken gezeichneten Schädel. Abgewetzter Tweed mit Flicken. Seufzend beugte er sich über den Rand der Wanne, wie ein Verdurstender, der den rettenden See erreichte - doch anstatt zu trinken, blickte er in das Wasser, mit dem die Wanne bis knapp unter den Rand gefüllt war.
Konnte etwas so Dunkles, Waberndes überhaupt noch Wasser genannt werden?
Die Flüssigkeit… bewegte sich. Ganz schwach und kaum mit Blicken greifbar, aber dennoch vorhanden, zogen seltsame Nebelschwaden durch das finstere Nass,
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