0947 - Geballte Wut
öfters Frauen auf Parkplätzen auf?«
»Ich…« Er schüttelte den Kopf. »Sie begreifen nicht. Ich muss Sie sprechen! Bitte, es hängt alles davon ab.«
Als er die Hände hob - eine Geste, die zweifelsfrei abwehrend und friedlich wirken sollte -, sah Emmeline die Tintenflecke an den Fingern seiner Rechten. So sah die Hand eines Mannes aus, der sein Lebtag lang Geige gespielt hatte.
Ich fasse es nicht , dachte sie und hob ungläubig die Brauen. Das ist kein Dieb. Sondern… ein Musiker. Für einen kurzen, absurden Moment ertappte sie sich bei der Frage, was wohl die schlimmere Alternative war. Sie fand keine Antwort.
»Sie wollen eine Genehmigung«, sagte sie trocken. Eine Feststellung, keine Frage.
Der Alte nickte so heftig, dass seine Nackenwirbel knackten und sein wirres Haar wild in alle Richtungen flog. »Genehmigung, ja. Für die Metro. Für das Spielen in der Metro. Von der RATP.«
Jeder Musikant oder andere selbst ernannte Künstler, der an Pariser U-Bahn-Stationen seiner Tätigkeit nachgehen wollte, brauchte dazu eine offizielle Beglaubigung der Betreiberfirma, der RATP. Zweimal im Jahr organisierte Emmelines Unternehmen langwierige Casting-Sessions, in denen alle Aspiranten einer mehrköpfigen Jury aus Büroangestellten, Schaffnern und Lokführern vorspielen mussten, die danach über ihren Antrag entschied. Mehr als zwei Drittel der Bewerber wurden regelmäßig abgewiesen - teils, weil ihre Leistungen so grottig waren, teils aber auch, um die Anzahl der Metro-Musiker überschaubar zu halten. Wie hieß es bei Wilhelm Busch? Als störend wird Musik empfunden, sowie sie mit Geräusch verbunden.
»Na, dann kommen Sie in vier Monaten wieder. Wir teilen nur nach den Castings neue Genehmigungen aus.«
Der Alte fuchtelte mit den dürren Armen durch die Luft, als wolle er ihre Worte einfangen, bevor sie der Falsche hörte. »Nnneinnnneinnnn. Das ist zu spät! Ich habe mehrfach versucht, in der Cité zu spielen, oh ja. Aber der Dicke in der Uniform verjagte mich jedes Mal, obwohl er doch sehen muss… Aber niemand sieht. Nur wir sehen. Nur wir.«
Ein Irrer. Ein größenwahnsinniger Verrückter. Und wenn er nicht bekommt, was er will, wird er sauer. Emmeline schluckte trocken und sah sich unauffällig um. Noch dreißig Meter bis zum Eingang des Bürogebäudes. Wenn sie schnell genug rannte und unterwegs schon den Schlüssel aus der Tasche fischte…
»Mittlerweile stehen schon Wachen an den Treppen«, fuhr der Mann in seiner Klage fort. Mit jedem neuen Wort wurde sein Tonfall lauter, drängender.
»Sie jagen mich fort, wenn ich nur in Nähe der Cité komme. Dabei muss ich doch!« Er hob den Kopf und fixierte Emmeline mit dem durchdringenden Blick seiner kalten, himmelblauen Augen. »Deshalb brauche ich die Genehmigung. Jetzt! Damit der Dicke mich nicht mehr vertreibt. Die Cité braucht mich !«
Zum Schluss schrie er. Emmeline begann zu zittern, richtete die Pfefferspraydose auf den Alten und wollte gerade abdrücken und losrennen, da ... ... schlug er ihr die Pseudo-Waffe mit einer Stärke und Treffsicherheit aus der Hand, die seiner schmächtigen Statur Hohn sprach. Seine Augen funkelten wie irr. Ein dünner Schweißfilm bedeckte seine faltige und von Altersflecken überzogene Stirn. Seine Halsschlagader zuckte bedrohlich.
»JETZT!«, schrie er. »Nicht in vier Monaten! JETZT!«
Seine Hände gruben sich in den Stoff ihrer Jacke, rissen sie zu sich. Emmeline war starr vor Schreck.
» Hey!! «
Eine zweite männliche Stimme wehte über den Parkplatz, dann näherten sich schnelle Schritte, und Thomas Abedi erschien. Der junge Kollege aus der Postabteilung musste mit dem Rad gekommen sein, denn ein Auto hatte Emmeline nicht gehört. Nun eilte er ihr mit geballten Fäusten entgegen.
»Hey, Sie! Was soll der Scheiß? Lassen Sie gefälligst die Frau in Ruhe!«
Sichtlich perplex, blinzelte der Alte und sah dem Neuankömmling fragend entgegen. Emmeline war fast, als erwache ihr Angreifer gerade aus einer Trance. »Was?«, murmelte er.
»Lassen Sie los, hab ich gesagt!«, wiederholte Thomas wütend. »Sonst rufe ich die Polizei und lasse Sie wegsperren. Lange!«
»Einsperren?« Der Alte zuckte zusammen, als habe man ihn geschlagen. »Oh, nein! Oh, nein, nein. Das wäre das Ende!«
Mit einer Schnelligkeit, die sie ihm niemals zugetraut hätte, ließ er von ihr ab, wandte sich um und rannte zur Quai de la Rapée, wo er zwischen den besseres Schritttempo fahrenden Wagen des Berufsverkehrs
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