0948 - Leonoras Alptraumwelt
lauerte die Nacht in all ihrer Dunkelheit und mit all ihren Gefahren, die sie barg. Die Nacht diente immer wieder als Versteck für lichtscheue Elemente, aber sie war auch der Schutz für Schwarzblüter und Diener des Bösen, denn die Nacht war ihre Zeit.
Suko hörte Shao in der Küche. Zwei Gläser klirrten gegeneinander. Er selbst tat nichts, er lag still, hielt die Augen offen, die Stirn etwas verzogen, als wäre er dabei, über Probleme nachzudenken. Sie kamen, da war er sicher, sie würden hier auf ihn niederfallen, und er wußte nicht, ob er sich ihrer erwehren konnte.
Shao kehrte zurück.
Er sah sie, wie sie den Wohnraum betrat, und plötzlich war alles anders. Sie war da, sie blieb auch, er sah sie, aber Suko sah sie anders als sonst.
Viel klarer, schärfer. Etwas hatte sich zwischen seine Augen und Shao geschoben, ein seltsames, nicht sichtbares, optisches Instrument, das alles veränderte.
War sie zweimal vorhanden?
Suko kam damit nicht mehr zurecht. Er wollte etwas sagen und sich aufrichten, das war nicht möglich. Er lag auf dem Rücken, eine Hand auf die Brust gelegt, und er spürte einen gewissen Widerstand unter seiner Jacke, die er nicht ausgezogen hatte.
Aber Shao ging weiter.
Sie stellte die Gläser ab. Sie schaute ihn an, und sie lächelte so, daß er beinahe eine Gänsehaut bekam. Dann drehte sie sich um, aber sie schenkte nichts aus der Flasche ein, sondern machte sich auf den Weg zum Fenster.
Sie ging ganz locken, als wäre es das schönste für sie, nur zum Fenster gehen zu dürfen, um es zu öffnen. Dabei war es draußen kalt, der Wind würde in den Raum wehen und…
Shao schaute noch einmal zurück.
Suko lag auf der Couch. Er spürte etwas in sich, das er bisher noch nicht gekannt hatte. Es war keine Gefühl, sondern kam eher einem Drang gleich. Er wußte genau, daß etwas geschehen mußte, er wollte es auch so, denn er hatte es sich vorgestellt. Das Fenster mußte offen sein, aber nicht, um frische Luft in den Raum fließen zu lassen, nein, da gab es einen anderen Grund.
Es wäre doch toll gewesen, einen Körper fallen zu sehen. Jemand, der auf die Fensterbank kletterte, sich nach vorn beugte und mit einem Schritt diese lächerliche Distanz überwand, damit er endlich fallen konnte. Tief fallen, aufschlagen, mit gebrochenen Knochen dort unten liegen, durch den Aufprall zusammengedrückt.
Wunderbar, herrlich…
Zuschauen. Sich vorstellen, wie es war, wenn er plötzlich den Schrei der Frau hörte.
Shao stand am Fenster. Sie zögerte noch, als wollte sie darüber nachdenken.
Das Bild war herrlich. Es entsprach dem, was Suko sich in seiner Phantasie zusammengesponnen hatte. Er hatte es sich gewünscht, so schnell und urplötzlich.
Shaos Finger umklammerten den Fenstergriff. Sie hielten ihn für eine Weile fest, als wäre er ein besonderer Rettungsanker. Dann drehte sie ihn herum, und sie benötigte nicht mal viel Kraft. Das Fenster öffnete sich wie von selbst und sie sprang nach innen.
Suko schaute lächelnd zu.
Ja, spring, dachte er. Klettere auf die Fensterbank und laß dich einfach fallen.
Sie hob das rechte Bein. Schon beim ersten Versuch klappte es. Jetzt brauchte sie sich nur abzustützen, um auch den anderen Fuß anheben zu können.
Alles ging leicht, glatt, so wunderbar. Keine Schwierigkeiten mehr. Es würde klappen.
Wind fegte in den Raum. Er wehte die Gardine hoch und gegen das Gesicht der Chinesin, die deshalb irritiert wurde und auch weiterhin zögerte, ihre Absicht in die Tat umzusetzen.
Der Wind erwischte auch Suko. Ein kalter Strom, der über Körper und Gesicht hinwegfuhr.
Er bewegte seine Hand, weil er plötzlich fror. Er schob sie unter die Jacke.
Shao stand auf der Bank. Sie hielt sich noch am rechten Rand des Fensters fest. Der Wind wühlte gegen ihr Haar, er hob es an, als wollte er es ihr vom Kopf reißen.
Noch einmal schaute sie zurück. Dabei verzog sie den Mund zu einem Lächeln.
Ein Abschied?!
Sukos Hand, mit ihr die Finger, bewegten sich. Er spürte den Druck dazwischen. Ein Stab, etwas Hartes, und plötzlich klirrte es in seinem Hirn.
»Ich - ich springe!« rief Shao.
Suko schrie dagegen.
»Topar!«
***
Es gab keine andere Chance mehr. Es war wirklich die allerletzte gewesen, und die Berührung des Stabs hatte eine Saite in Suko zum Klingen gebracht, mit der er nicht gerechnet hatte. Aus einer unauslotbaren Tiefe hervor mußte ihm jemand eine Nachricht geschickt und so Kontakt mit ihm aufgenommen haben.
Auf einmal war ihm das Wort
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