0954 - Die Stunde des Pfählers
schaute sich um.
Nichts war zu sehen. Auch als sein Blick zum dunklen Rand des Waldes hochglitt, konnte er nichts erkennen. Und doch hatte sich seinem Instinkt nach die Gefahr dort befunden. Und sie hatte ihn an etwas erinnert, das er längst begraben hatte.
An die Vergangenheit.
An einen Popen, der Dragan Samescu hieß. An jemanden, der es geschafft hatte, ihn zu fangen. Der ihn durch das Kreuz hatte bannen können. Aber dieser Pope war tot. Nichts durfte mehr an ihn erinnern.
Und doch war es dagewesen.
Wieso?
Er senkte den Blick und betrachtete den Stein des Pendels, der offen vor seiner Brust hing. Augen in einem Gesicht, die leicht glühten, als würde durch sie eine Farbe wehen.
Etwas war anders geworden, ganz anders. Aber auch das konnte seine Pläne nicht stören.
Er würde weitermachen, und mit jedem Schluck Blut steigerte sich sein Macht und Kraft…
***
Sie hatten Frantisek Marek um die Lok des Zugs herumgeführt und waren mit ihm zu dem heruntergekommenen Bahnhofsgebäude gegangen.
Große Steine lagen im Schutz einiger Mauern, die ebenfalls eingerissen waren oder zumindest renovierungsbedürftig waren.
Es gab so etwas wie einen Mittelpunkt in dieser alten Ruine, den die Banditen als Lagerplatz umfunktioniert hatten.
Es war kalt in dem Gemäuer. Zudem zugig. Auch hatte es hineingeschneit. An einer Seite war der Schnee sogar verweht worden, und es sah so aus, als wollte er an der alten Mauer hochklettern.
Ansonsten lag er als dünne Schicht auf dem Boden und war dort weggetaut oder einfach nur von den Rucksäcken der Banditen verdeckt.
Einer von ihnen hatte ein Feuer angezündet. Das Holz mußten sie mitgebracht haben, es war schon trocken. Die Flammen schnappten gierig danach und zerfraßen es mit knackenden Geräuschen. Nur eine dünne Rauchfahne stieg in die Luft.
Über dem Feuer stand ein Dreibein.
In einem Topf wurde Wasser gekocht, damit sich die Banditen an einem kräftigen Tee wärmen konnten. Flaschen mit billigem Rum standen ebenfalls bereit, um das Getränk zu »veredeln«.
Marek durfte sich an das Feuer setzen. Die Wärme tat ihm gut, auch wenn der Rücken kalt blieb.
Der Anführer nahm ihm gegenüber Platz, die anderen an den Seiten und schauten Marek an.
»Willst du trinken?«
»Ja.«
Anton Varac lachte. »Schließlich bin ich kein Unmensch. Mit Pennern habe ich immer Mitleid. Du lebst in einer beschissenen Zeit. Du bist zu alt für Neuerungen, du kannst dich nicht mehr umstellen, und deshalb wirst du bis zu deinem Tod zu den Verlierern gehören, das sage ich dir.«
Der Pfähler hob nur die Schultern. Er dachte zwar anders darüber, wollte Varac aber in seinem Glauben lassen, was letztendlich auch besser für ihn war, wenn ihn die Gegner nicht ernst nahmen.
Der Chef selbst kippte das Wasser in eine Kanne, in der Teebeutel lagen. Ein anderer Bandit verteilte die hohen Becher aus Plastik, die zu einem Drittel mit Schnaps gefüllt waren.
»Der Tee wird dein Gedächtnis auffrischen!« versprach Anton Varac. »Ich weiß es nicht.«
»Doch, ich bin sicher. Du wirst dich an viele Dinge erinnern, die ich noch nicht weiß.«
»Mag sein«, gab Marek zu. »Ich will dir nicht widersprechen, aber was kann ich denn wissen, was auch nicht schon längst bekannt ist?«
Varac schwieg. Er schaute Marek an. Zwischen den beiden Männern brannte das Feuer. Seine Flammen ließen die Gesichter aussehen, als würden sie zerfließen. Als Anton grinste, da schien sich sein Mund aus dem Gesicht lösen zu wollen. »Ich traue dir nicht, Alter.«
»Warum nicht?«
»Kann ich dir nicht genau sagen. Nenne es ruhig Instinkt oder Lebenserfahrung. Etwas davon paßt immer. Du bist einer, der sein Licht unter den Scheffel stellt. Ich habe immer stärker das Gefühl, von dir nicht die ganze Wahrheit gehört zu haben.«
»Was sollte ich denn verschweigen?«
Varac lachte leise. »Genau das ist das Problem. Das will ich von dir wissen.«
»Nichts.«
»Irrtum.«
»Ich bin ein blinder…«
»Hör auf damit!« Der Bandit winkte ab. »Ich kann es nicht mehr hören. Es geht mir auch nicht darum, sondern um den Tod von Ottincu. Er ist regelrecht zerrissen worden, das habe ich gesehen. Zerfetzt, da war jemand am Werk, der…«
»Die Bestie«, sagte Marek.
Varac schwieg. Er griff statt dessen zur Kanne und reichte sie einem seiner Männer, der die Becher mit dem Tee füllte. Für einen Moment breitete sich ein wunderbarer Duft aus, bei dem auch der Alkoholgeruch nicht störte, und Marek gelang es für
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