0954 - Die Stunde des Pfählers
hat es immer wieder gegeben, denn die Warnungen der Wissenden sind nicht grundlos ausgesprochen worden. Und nun gibt es das System nicht mehr. Rumänien hat den Umbruch hinter sich. Die Zeiten haben sich geändert, aber die Geschichte und die Legenden sind dieselben geblieben. Muß ich dir das noch sagen?«
»Nein.«
»Aber du solltest darüber nachdenken.«
»Womit wir wieder bei dem Mörder sind.«
»Eben. Dem Vampirwolf, der deinen Mann im Waggon brutal getötet hat.«
»Und dich hat er in Ruhe gelassen, wie?«
»Ja.«
Varacs Arm schnellte vor und auch sein rechter Zeigefinger. Er deutete durch die Flammen auf Marek. »Genau das ist das Problem. Warum hat er Ottincu getötet und dich nicht? Es wäre ihm doch ein Leichtes gewesen, dich zu vernichten. Das kannst du mir nicht erzählen. Such dir eine bessere Ausrede aus.«
»Ich gebe dir ja recht.«
»Sehr schön. Dann kannst du uns auch erklären, warum du überlebt hast.«
Frantisek nickte. »Ich habe mich auch gewehrt, und er war schließlich satt.«
Nach diesen Worten wußte keiner der Männer etwas zu sagen. Sie standen nur da und staunten. Es glich schon einem Wunder, daß sie ihre Lippen geschlossen hielten und nicht in die Gegend starrten wie irgendwelche Mondkälber.
Anton Varac regte sich als erster. Er sprach noch nicht, sondern hielt die Arme halb erhoben und schlug mehrmals gegen seinen Kopf. Dabei drehte er sich um die eigene Achse und wirkte wie ein Soldat, der nach einer gewonnenen Schlacht einen Tanz aufführen wollte. »Du hast dich gewehrt, alter Mann, und er war satt. Er war satt. Du hast dich gewehrt. Du - ausgerechnet du! Ein müder, alter Penner, ein blinder Passagier. Wobei Ottincu mit einer geladenen MPi bewaffnet war und…«
Varac konnte nicht mehr sprechen. Er wirbelte herum und blieb so stehen, daß er Marek anstarren konnte. »Sag mal, willst du uns hier verarschen? Ist dir dein Leben so wenig wert?«
»Ich lebe gern.«
»Das Gefühl habe ich nicht.« Varac sprang auf Marek zu, bückte sich noch in der Bewegung, bekam den Pfähler mit beiden Händen zu packen und zerrte ihn hoch. Marek stand nicht richtig auf seinen Füßen, wurde aber von dem jüngeren Mann durchgeschüttelt, der ihn anschrie und fluchte, dann aber aufhörte und Frantisek zurück auf den Boden stieß. Dabei fiel Mareks Becher mit dem Spezialtee um, doch darum kümmerte er sich nicht. Er sah nur auf Anton Varac, dessen Finger wieder auf ihn zeigte. »Noch eine Chance, alter Mann, die letzte.«
»Ja, ich habe verstanden.«
»Ich beginne dort, wo ich aufgehört habe.«
Die Hand des Banditenchefs klatschte auf den Griff eine Pistole, aber Marek hob den Arm. »Nicht so schnell, hör mich an. Nur zwei Minuten.«
»Gut.«
»Dein Freund Ottincu war sicherlich gut bewaffnet, das gebe ich zu, aber mit diesen Waffen konnte er nicht gegen ein Wesen wie den Vampirwolf siegen. Du kannst ihn nicht mit einfachen Kugeln töten. Da braucht man andere Waffen.«
Varac lachte. »Knoblauch? Oder womöglich Salz?«
»Vielleicht geht es auch damit.«
»Aber du hast dich damit nicht gegen ihn gewehrt.«
»Stimmt. Ich hatte eine andere Waffe.« Mehrere Augen beobachteten den alten Mann, der seine Hand unter die Kleidung geschoben hatte und seinen Eichenpfahl umklammerte. Er wußte nicht, ob er das Richtige tat, aber er mußte dieses Risiko eingehen, auch wenn die anderen es kaum akzeptieren würden. Marek genoß seinen Auftritt nicht, obwohl er sich nur langsam bewegte. Er war nur mit seinen Gedanken beschäftigt, doch plötzlich weiteten sich die Augen der anderen, als sie den Pfahl sahen, über den auch der Widerschein der Flammen huschte.
Von den fünf Banditen schwiegen nur vier. Einer - Varac - sprach, doch Zuvor lachte er. »Damit!« prustete er wieder los. »Damit hast du ihm Angst eingejagt?«
»Damit habe ich ihn vertrieben.«
Varac wandte sich an seine Leute. »Schaut euch das an. Schaut es euch an. Bin ich im Kino?«
Er bekam keine Antwort. Seine Leute konnten diesen speziellen Humor nicht nachvollziehen. Sie schwiegen, aber Marek ahnte, daß diese Männer anders darüber dachten.
»Es ist ein Pfahl!« flüsterte Frantisek. »Einer aus Eiche. Du solltest wissen, was es bedeutet.«
»Ja, das weiß ich«, gab der Mann knirschend zurück. »Ein Pfahl oder ein Pflock, um Vampire damit aufzuspießen. Ich kenne das aus dem Kino, aber nicht aus unserem Land oder aus der Wirklichkeit. Steck ihn wieder weg. Du darfst ihn behalten. Oder wir behalten ihn als letzte
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