0954 - Die Stunde des Pfählers
einige Augenblicke, seine Lage zu vergessen.
Er konnte sich vorstellen, wenn er die Augen schloß, in einem gemütlichen Raum zu sitzen und mit Freunden zu diskutieren, wobei große Mengen von Tee getrunken wurden.
Der Stoß gegen sein rechte Schulter riß ihn aus seinen Träumen. Er öffnete die Augen, sah sofort wieder das Feuer und die dahinterliegende kalte und feindliche Umgebung mit den düsteren Mauern und der dünnen Schneedecke auf dem Boden.
Die Wirklichkeit sah anders aus, auch wenn man ihm einen mit Tee gefüllten Becher reichte.
Marek wärmte daran sein Hände, und er sah, wie Varac ihm zuprostete. »Ich hoffe, er wärmt auch dein Gedächtnis durch, denn ich möchte von dir etwas hören.« Nach diesen Worten trank Varac schlürfend die ersten Schlucke und stöhnte auf, als er den Becher abgesetzt hatte. »Ja, er ist gut, er bringt das Feuer zurück.«
Der Pfähler hatte ebenfalls getrunken und mußte zugeben, daß ihm in seinem ganzen Leben noch nie jemand einen derartigen Tee angeboten hatte. Der schmeckte mehr nach Schnaps, nach dem scharfen Alkohol. Er brannte auch in der Kehle, doch Marek ließ sich nichts anmerken. Im Gegenteil, er nickte sogar.
»Zufrieden, Alter?«
»Ja.«
»Dann können wir ja reden.«
Marek seufzte. Er wußte, daß es schwer für ihn werden würde, denn es war dem anderen kaum beizubringen, daß er tatsächlich nur sehr wenig oder so gut wie nichts wußte. »Was soll ich dir denn sagen, Anton Varac? Du bist hier der Held. Du bist derjenige, der alles in den Händen hält. Vor dir fürchten sich die Menschen. Du sagst ihnen, wo es langgeht. Du hast die Zeichen der Zeit erkannt. Aber was bin ich gegen dich? Alt, verbraucht, da hast du schon recht gehabt.« Marek hatte ihm bewußt Honig um den Mund geschmiert, und er sah auch, daß Varac geschmeichelt lächelte, aber trotzdem nicht auf Mareks Wort hereinfiel.
»Ich kann dir nicht widersprechen, alter Mann. Du hast recht. Deine Zeit ist vorbei, und meine fängt erst richtig an. Um dies aber störungsfrei ablaufen zu lassen, möchte ich keine Probleme haben, verstehst du? Weder mit irgendwelchen Typen, noch mit Bestien oder Monstren. Ich hoffe, das kannst du packen.«
»Doch, immer. Ich hätte in deinem Alter ebenso gedacht.«
Varac grinste. »Wie alt bist du eigentlich? Sechzig? Oder mehr?«
»Kann hinkommen.«
»Siebzig?«
Frantisek winkte ab. »Ich habe irgendwann aufgehört, die Jahre zu zählen. Es ist besser so. Man wird deprimiert.«
»Ja, ja, das kann ich mir denken. Aber mich deprimiert es, wenn ich einen meiner Leute verliere.«
Seine Stimme steigerte sich. »Verflucht noch mal, ich will endlich wissen, wer dahintersteckt!«
»Du weißt es schon.«
»Ja«, keuchte der Mann. »Ich weiß es!« Er sprang auf. »Aber ich will es nicht glauben.«
Marek blieb ruhig. Er schaute den Anführer an, der sich gebückt hingestellt und seine Hände auf die Oberschenkel gelegt hatte. »Glaubst du denn, daß ich ihn umgebracht haben könnte?«
»Nein. Du bist zu alt.«
»Das stimmt.«
»Aber jemand muß es getan haben.«
Marek wischte über seine Stirn. »Hör mich an. Ich will dir keine Märchen erzählen. Es gibt ihn. Es gibt diese Mischung aus Werwolf und Vampir. Er ist alt, älter als wir alle zusammen. Er hat sich schon damals auf Blutjagd begeben und wird es heute auch wieder tun. Es klingt unglaublich, aber wenn du nachdenkst, ist manches in unserer Geschichte kaum zu glauben.«
»Ach ja?« Anton Varac hatte sich wieder ein wenig beruhigt. »Wie meinst du das denn?«
»Denk an den Fürsten Dracula.«
»Ach, hör auf damit!«
»Er hat gelebt!«
»Ja, ich weiß, verdammt!« Varac schlug auf seinen rechten Oberschenkel. »Er hat die Verfluchten zurückgeschlagen und sich dann mit dem Teufel oder wem auch immer verbündet. Er liebte den Tod und das Blut, aber das liegt lange zurück, und die Geschichten, die man sich über ihn erzählte, sind doch nicht wahr.«
»Das weiß ich nicht.«
»Mußt du aber wissen. Filme, Bücher. Nichts ist echt. Eine Legende, so habe ich es gelernt.«
»Damals waren die Zeiten anders«, hielt Marek dagegen.
Varac runzelte die Stirn. »Wieso? Was meinst du damit? Kannst du das erklären?«
»Sicher.« Marek war froh, den Mann vom eigentlichen Thema abgelenkt zu haben. »In einem kommunistischen System durfte so etwas einfach nicht vorkommen. Das paßte nicht in die Ideologie hinein, Anton. Man hat es verdrängt, man hat es in die Tiefe des Aberglaubens vergraben. Aber das
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