0955 - Der Gruftie
Krallen hin und her.
Plötzlich war alles vorbei.
Der Unheimliche lag in seinem Grab. Er fühlte sich wieder so herrlich normal. Alles war anders geworden, keine fremde Kraft strömte durch die Erde auf ihn zu.
Es ging aufwärts. Er konnte das tun, was er sich für diese Nacht vorgenommen hatte, und Waterman würde sich wundern.
Es ging ihm gut. Alles war okay. Die Erde bedeutete kein Hindernis für ihn.
Neue Kräfte flossen in seinen knöchernen Körper hinein. Sie waren wie Säfte, die dafür sorgten, daß er sich gut fühlte, und er fing an, sich zu erholen.
Mit beiden Klauen stützte er sich am Boden ab. Dann drückte er seinen Oberkörperhoch.
Das Unwahrscheinliche geschah. Zwar lag die Erde noch wahnsinnig schwer auf dieser Gestalt, die aber schien gegen die Gesetze der Physik zu handeln, denn plötzlich war dieser gewaltige Druck kein großes Hindernis mehr.
Er wühlte sich durch.
Er kam hoch.
Seine Klauen bohrten sich in die Masse hinein, und es war ihm sogar gelungen, auf die Beine zu kommen. Kein Knochen brach. Sie schienen nicht aus normalem Gebein zu bestehen, sondern aus hart geschmiedetem Stahl, der sich allen Widerständen entgegenstemmte. Es war so einfach, so herrlich, so frei, und der Gedanke, das warme Fleisch der Menschen riechen zu können, gab ihm einen noch größeren Antrieb.
Hätte jemand vor dem Grab gestanden und auf die Fläche geschaut, so hätte er die Bewegungen bereits erkennen können, da sich auf der Graboberfläche die erste Unruhe abzeichnete, weil die Krumen dort in Bewegung gerieten.
Hinzu kam das Mondlicht. Der Trabant strahlte seine helle Kälte auf die Erde. Er stand schon fast unnatürlich klar am Himmel und glotzte herab, als wollte er mit seinem hellen Auge alles durchbohren.
Umgeben vom Gefunkel der Sterne, bildete er eine kalte, aber keine romantische Kulisse. Es schien, als sorgten seine uralten und mythischen Kräfte dafür, daß die Gestalt im Grab immer mächtiger und stärker wurde, um den Weg perfekt nach oben zu finden.
Ein böser Traum wurde wahr. Ein Horror, in zahlreichen Filmen gezeigt, in vielen Büchern beschrieben, nahm in der eisigen Kälte eines Gartenparks Gestalt an, denn plötzlich erschien auf der Oberfläche des Grabs etwas bleiches, das im zusätzlichen Licht des Mondes noch stärker leuchtete, als würde das Gebein fluoreszieren.
Der Gruftie hatte seine rechte Klaue aus der Erde nach draußen gesteckt und schien Halt zu suchen.
Kurze Zeit später erschien die zweite Klaue an der Oberfläche.
Wieder sah sie für einen Moment aus, als würde sie leuchten. Die beiden Hände tasteten die Oberfläche in ihrer Umgebung ab. Erst als sie herausgefunden hatten, daß keine Gefahr bestand, geriet die Erde wieder in stärkere Bewegungen, und es erschienen die blanken Schulterstücke des Grufties und der völlig normale Kopf. Das Gesicht gehörte einem Mann. Die weißen Haare standen struppig am Hinterkopf ab; vorn fehlten sie ganz. Die Augen sahen aus wie dunkle, in den Höhlen leicht verdrehte Kugeln. Der Mund war zu einem Maul geworden, das weit offenstand. Die Gestalt schien nach Luft zu schnappen.
Kleine Erdkrumen bröselten von der Gestalt nach unten und klatschten mit weichen Lauten auf das Grab. Der Schmutz klebte an den Knochen wie eine zweite Haut. Er hing auch im Gesicht fest und bedeckte die blanke Stelle am Kopf des Unheimlichen. Er hatte sich regelrecht in den Haaren festgefressen und füllte auch den Mund aus.
Mit einem letzten Schwung schwang sich das Skelett vollends ins Freie.
Es zog noch das rechte Bein nach, dann glitt es auf allen vieren über das Grab hinweg und kam direkt vor ihm in die Höhe. Es stellte sich nur langsam aufrecht, als wollte es jede Bewegung dabei genießen.
In der kalten Luft und übergossen vom bleichen Licht des Mondes wartete der Gruftie ab.
Er bewegte seinen menschlichen Schädel, schaute sich um und suchte nach einem Feind, der sich irgendwo versteckt halten konnte und auf ihn gewartet hatte.
Der parkähnliche Garten blieb still. Nichts war zu hören. Die Kälte drückte die absolute Ruhe auf das Gelände nieder, das dem Gruftie allein gehörte.
Er kannte sich aus, wußte Bescheid, und er drehte langsam den Kopf nach rechts. Nicht etwa, um dorthin zu schauen, wo die Leiche lag, nein, ihn interessierte etwas anderes. Mit seinem überscharfen Gehör hatte er die Musik wahrgenommen und ebenfalls die lauten Stimmen der Gäste, auch das Lachen der Frauen.
Ja, das war gut.
Das kam ihm
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