0955 - Der Gruftie
Fensterbank durch die Scheibe zu peilen, aber möglichst wenig von sich zu zeigen.
»Kannst du etwas sehen?« wisperte Sheila.
»Noch nicht. Aber ich habe mich nicht geirrt. Der Gruftie ist in der Nähe gewesen.«
»Aber nicht direkt am Fenster.«
»Das nicht.«
Sheila störte ihren Mann nicht. Sie blieb still und beobachtete ihn. Dabei biß sie sich vor Aufregung auf die Unterlippe, und ihre Augen hatten einen starren Ausdruck bekommen. Ihr Mann schob sich langsam immer höher, so daß er jetzt besser durch die Scheibe schauen konnte. Sein Sichtbereich war gut, und Sheila konzentrierte sich auf Bills Rücken. Bill bewegte seine Hand. Es war mehr ein Zucken, aber die Frau ahnte, was geschehen war, und sie hörte es auch bald.
»Er ist da!«
Für einen Moment hielt Sheila den Atem an. »Wo denn?«
»Fast schon an der Scheibe!«
Sheila wollte nicht mehr in Deckung bleiben. Viel war von diesem Gruftie gesprochen worden. Jetzt mußte sie selbst schauen, wie diese Gestalt aussah. Ein Skelett mit einem Menschenkopf, das wollte sie noch nicht begreifen, aber etwas mußte ja an dieser Sache dran sein, das saugte man sich nicht aus den Fingern. Zudem wußte sie aus Erfahrung, daß es auf dieser Welt Dinge gab, die nahezu unaussprechlich waren.
Sie bewegte sich auf Bill zu, der weiterhin durch die Scheibe peilte. Zum Glück war es in der Küche dunkel, und sie hofften, daß sie nur ein Schatten von vielen waren.
Sheila hob ihren Kopf so weit an, daß sie ebenfalls in die Finsternis des Gartens schauen konnte.
Dort war die Welt erstarrt. Selbst die Dunkelheit schien gefroren zu sein, aber durch sie hindurch bewegte sich ein Schatten.
Es war tatsächlich der Gruftie, und Bill hatte sich nicht geirrt, denn die Gestalt kam geradewegs auf die Scheibe des Küchenfensters zu. Sie ging langsam, etwas ungelenk. Sheila merkte, daß sie das Luftholen vergessen hatte. Der Atem hatte ihr gestockt. Ihre Augen sahen aus wie zwei starre kleine Seen. Sie sah jetzt das Gesicht, aber sie brauchte irgendeinen Halt, denn dieser Anblick hatte sie doch schwer erschüttert. Auf dem Gerippe saß tatsächlich ein menschlicher Kopf. Im Vergleich zum Skelett wirkte er viel schwerer. Das war kein Gesicht mehr, das war eine Fratze, die sich aus der Dunkelheit hervorschälte, aber auch nicht so scheußlich, sondern menschlich angehaucht. Zudem behaftet mit den Spuren des Grabs, denn der Dreck klebte noch auf der Haut, er hing in den hellen, nach hinten reichenden Haaren und hatte sich auch in irgendwelchen Kratzwunden festgesetzt.
Das Gesicht vergaß Sheila, als sie ihren Blick senkte, weil sie genau sehen wollte, wie der doch normale Kopf mit dem Knochenkörper in Verbindung stand.
Sie sah den Hals, sie sah auch die Hautfetzen, die an alte Lappen erinnerten und nur mit einer Seite festhingen. Mit der unteren baumelten sie den dunklen Knochen entgegen, die durch den Dreck ebenfalls verschmiert worden waren.
Was dann folgte, waren Knochen, nur Knochen. Ein Gerippe, ein Skelett, bräunlich schimmernd, einfach widerlich. Durch irgend etwas zusammengehalten, mit dem sie nicht zurechtkam, aber es konnte sich bewegen. Es existierte, obwohl Sheila nicht daran glauben wollte, daß es lebte, denn Leben war für sie etwas anderes.
»Das gibt es doch nicht«, hauchte sie. »Das ist doch irre, einfach verrückt! Daran kann ich nicht, verdammt - so etwas kommt mir nicht in den Sinn! Ich - ich werde noch verrückt…«
»Sei ruhig, Sheila!«
»Schon okay - sorry!«
Sie warteten ab. Sie hockten beide dicht zusammen. Ihre Gesichter zeigten eine harte Anspannung.
Die Augen waren dabei wie kalte Teiche, und tief im Hintergrund lauerte bei beiden die Furcht. Zeit verstrich. Sie hatten sich jetzt geduckt. Der Anblick hatte ihnen gereicht, und sie knieten so, daß sie sich gegenseitig anschauen konnten.
In der folgenden Zeit kam es darauf an, was das Skelett unternehmen würde. Wenn es scharf darauf war, Menschen zu töten, dann waren Sheila und Bill bereits von ihm wahrgenommen worden. Sie konnten sich auch vorstellen, daß es die Scheibe einschlug und über sie herfiel. Rücksicht brauchte es nicht zu nehmen.
Bill ärgerte sich jetzt darüber, keine Waffe zu tragen. Er hatte die Beretta zu Hause gelassen. Wer ging schon auf eine Feier mit einer gezogenen Waffe?
Also warten. Auf ein Geräusch lauern. Das Skelett konnte möglicherweise an der Scheibe kratzen, um sie anschließend einzuschlagen. Das war alles möglich.
Beide schraken zusammen, als sie
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