0960 - Aibons böse Diener
bleiben.«
Damit war Muriel Shannon einverstanden. Sie nahm noch die Kanne mit.
Im Wohnraum stellte sie das Gefäß auf einer Platte warm.
Gordon Tarling hatte seinen Platz nicht verlassen. Er saß dort wie angewachsen, den Blick nach vorn gerichtet und trotzdem ins Leere. Auch als die beiden Frauen den Raum betreten hatten, drang kein Wort aus seinem Mund. Er nahm sie so gut wie nicht wahr.
Muriel trat dich an ihn heran. »Können wir etwas für dich tun, Gordon?«
»Nein.«
Sie gab nicht auf. »Kaffee - Tee?«
»Nichts.«
»Darf ich dich denn fragen, wie es dir geht, Gordon?«
Tarling räusperte sich. Er verlor sein statuenhaftes Dasein und erwiderte: »Schlecht.«
»Auch jetzt?«
»Ja.«
»Warum?«
»Weil ich genau weiß, daß sie kommen werden. Hierher, hier zu uns, zu ihrem Vater.«
Muriel stand noch immer neben ihm, den Kopf leicht nach vorn gebeugt.
»Und von wem sprichst du?«
»Von meinen vier Söhnen!« erklärte Tarling dumpf. »Von den vier Schatten. Ich weiß genau, daß sie mich finden werden, und sie sind bereits auf dem Weg.«
Muriel Shannon sagte nichts. Sie drehte sich allerdings zu Jane Collins um, die im Sessel saß und den Dialog mitbekommen hatte. Trotzdem fragte die Irin: »Hast du das gehört?«
»Sicher. Ihr habt ja laut genug gesprochen.«
»Und was sagst du dazu?«
Jane runzelte die Stirn. »Was immer auch geschehen ist. Für uns stellt es sich als Rätsel dar. Aber wir müssen damit rechnen, daß dieses Rätsel noch größer werden wird und wir mit Dingen konfrontiert werden, die wir überhaupt nicht begreifen können. Dazu gehört das Erscheinen der vier Schatten.«
»Schatten oder Seelen, die leben.«
»Ja, so sehe ich es.« Muriel stieß den Atem aus und ging von Gordon Tarling weg. Vor dem Fenster blieb sie stehen und schaute so angestrengt durch die Scheibe, als wollte sie die Schatten suchen. Nach einer Weile fing sie auch an zu sprechen.
»Ich komme damit nicht zurecht, wenn ich ehrlich sein soll. Und ich habe Angst bekommen. Schlimme Angst. Es ist nicht so, daß ich schreien werde, aber so etwas wie heute habe ich in meinem Leben noch nie zuvor durchgemacht. Für mich steht die Welt köpf. Nichts ist mehr so, wie es noch vor einer Woche war. Das Unmögliche wird möglich, und das Normale wird in den Hintergrund gedrängt. Wo leben wir eigentlich, Jane? Was ist das für eine Welt geworden? Damit meine ich nicht die Welt allgemein, sondern die hier in meinem näheren Umkreis. Alles hat sich verändert, und bestimmt nicht oft zum Guten. Oder wie siehst du das alles?«
»Ähnlich.«
Die Lehrerin lachte. »Nur ähnlich? Oder…«
Jane ließ die Frau nicht ausreden. »Mehr oder, Muriel. Aber ich sehe es nicht so verbissen. Zwar auch nicht locker, doch ich möchte mich nicht schon vorher einschränken. Wenn du verstehst, was ich damit gemeint habe.«
Muriel drehte sich von der Scheibe weg. Ihr Gesichtsausdruck zeigte Skepsis. »Himmel, du hast gut reden, Jane. Du bist jemand, der diese unwahrscheinlichen Fälle des öfteren erlebt. Aber für mich ist das Neuland, absolutes Neuland. Ich muß damit erst einmal zurechtkommen, und das ist schwer genug. Natürlich kenne ich die Geschichten, mit denen dieses Land reich bestückt ist, aber von irgendwelchen Schatten habe ich bisher nichts gehört. Das ist völlig neu. Über so etwas ist auch nichts geschrieben worden.«
»Ja, das kann ich mir denken.«
»Warum?«
»Es gibt eben Geheimnisse, über die wird zwar geredet, aber die Menschen wissen nicht, wo sie dabei anfangen sollen. Sie reden um das Ziel herum, ohne den Kern zu treffen. Uns hat sich dieser Kern offenbart, und er ist nicht auf dieser Welt zu suchen, Muriel.«
Die Irin überlegte einen Moment. »Wo dann, Jane? Wo soll ich anfangen zu suchen?«
»Laß es bleiben«, riet ihr die Detektivin. »Es ist wirklich besser für dich.«
Muriel hob die Schultern. »Kannst du mir sagen, was ich deiner Meinung nach tun soll?«
»Nichts.«
»Wie?«
»Du verhältst dich ruhig. Tu nichts. Versuche sogar, deine Gedanken zu verdrängen. Beschäftige dich nicht mit dem Fall, das ist wirklich am besten. Alles andere kannst du vergessen.«
»Nein, das kann ich nicht!« stieß die Lehrerin hervor. »Das kann ich auf keinen Fall!«
Jane wollte nicht mehr diskutieren, denn es hatte keinen Sinn. Muriel Shannon regte sich womöglich noch mehr auf, und Gordon Tarling sollte auch nicht in die Diskussion mit hineingezogen werden. Es war besser, wenn sie allein war und auch
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