0960 - Aibons böse Diener
allein nach gewissen Phänomenen Ausschau hielt. Das gelang ihr hier im Haus schlecht, dazu mußte sie schon nach draußen gehen.
Noch einmal schaute sie auf Gordon Tarling, der teilnahmslos in seinem Sessel lag. Er war in sich gekehrt. Seine Gedanken drehten sich einzig und allein um ein Phänomen, über das er auf keinen Fall sprechen wollte. Da war es besser, still zu sein und nichts zu sagen. Manchmal bewegten sich seine Lippen, doch er schaffte es nie, seine Gedanken in Worte zu kleiden. Oder er wollte es nicht.
»Du bleibst bei ihm?« fragte Jane.
»Ja.« Muriel war erstaunt. »Du doch auch - oder?«
»Im Prinzip schon«, gab Jane zu. »Aber ich möchte mich gern draußen umsehen.« Sie sah, daß Muriel erschrak und beruhigte sie rasch. »Keine Sorge, ich werde schon nicht verschwinden, denn ich bleibe in unmittelbarer Nähe des Hauses. Aber dort bin ich nicht durch Wände eingeschränkt, da habe ich den besseren Überblick.«
»Du suchst die Schatten, wie?« preßte Muriel hervor, als hätte sie Furcht davor gehabt, diese Frage zu stellen.
Jane lächelte. »Ja, ich gebe zu, daß ich auch nach ihnen suche. Ich möchte sie sehen.«
Muriel senkte den Kopf. »Das will ich nicht unbedingt.«
»Das kann ich verstehen. Bis gleich.«
Die Lehrerin nickte. Sie schaute Jane nach, wie sie das Zimmer verließ, und sie hörte Gordon Tarling schwer und seufzend atmen. Sofort war sie bei ihm. »Was ist, Gordon? Geht es dir schlecht? Hast du Probleme?«
Der Mann schaute zum Fenster und räusperte sich, bevor er sagte: »Ich weiß, daß sie kommen, und sie haben sich unserem Haus schon genähert. Sie lassen sich nicht stoppen. Sie sind mächtig, irrsinnig mächtig.«
»Das weiß ich, Gordon.«
»Man kann sie auch nicht stoppen.«
Muriel lächelte. »Wollen wir das nicht abwarten, Gordon?«
»Glaubst du daran?«
Muriel wußte nicht, was sie antworten sollte. Sie hob die Schultern und schwieg. Auch Tarling sagte kein Wort, und Muriel schenkte sich Kaffee nach. Sie mußte einfach etwas tun, dieses Schweigen in einer derartig bedrückenden Atmosphäre ging ihr auf die Nerven.
Jane Collins hatte das kleine Haus inzwischen verlassen. Vor ihm war sie stehengeblieben. Der Platz war ziemlich groß, eine helle und bepflanzte Mauer, von der Höhe her so hoch wie ein Kind, schützte das Haus im Nordwesten vor den starken Winden, die zumeist aus dieser Richtung wehten. Wenn sie über den hellen Wall hinwegschaute, glitt ihr Blick über das freie Gelände, denn die anderen Häuser des Ortes lagen im südöstlichen Bereich.
Das Land vor ihr war leer, bis auf zwei alte Schuppen. Es verlor sich in einer hügeligen Weite und lag an diesem Tag auch weiterhin unter einem schief ergrauen Himmel.
Der Wind fegte durch ihre Haare und zerrte daran. Sie spürte ihn kühl über die Kopfhaut gleiten, aber von den Schatten war nichts zu sehen.
Jane hoffte natürlich, daß sich Gordon Tarling mit seinen Voraussagen geirrt hatte, aber so recht konnte und wollte sie daran nicht glauben.
Auch John und Suko hatten die Schatten gesehen. Zwei gute Zeugen, die sich bestimmt nichts eingebildet hatten.
Um mehr sehen zu können, ging Jane auf die Mauer zu und stellte sich auf die Krone. Ihr Überblick war wesentlich besser geworden. Wenn sie ihren Kopf nach rechts drehte, überblickte sie einen Teil des Ortes. Es war schon bemerkenswert, wie wenige Menschen die Häuser verlassen hatten und sich auf den Straßen bewegten. Keiner der Bewohner wußte so recht Bescheid, was hier abgelaufen war, aber Jane kam es vor, als wären die Menschen von einer gewissen Ahnung befallen, die ihnen riet, in den Häusern zu bleiben.
Die Schatten sah sie nicht. Überhaupt gab es so gut wie keine Schatten.
Es lag daran, daß sich auch die Sonne hinter den Wolken verborgen hielt. Das winterliche Grau hatte sich gehalten, keine Spur eines herannahenden Frühlings, und auch das Gras hatte seine grüne Farbe noch nicht bekommen. Es sah bräunlich aus und bedeckte die Hänge der flachen Hügel wie ein Teppich, der an vielen Stellen Löcher bekommen hatte. Genau dort, wo die hellen Steine hervorragten, die Wind und Wetter stark gebleicht hatten.
Die Mauer hörte auf der Hälfte der Hausrückseite auf. Die Shannons hatten dort einen kleinen Nutzgarten angelegt. Keiner war bisher in ihn hineingegangen und hatte dort gearbeitet. Er lag dort in seiner winterlichen Starre. Einige Krokusse, die die Sonne suchten, wirkten wie verloren in der Weite.
Jane drehte sich wieder um.
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