0965 - Der Killerbaum
So jedenfalls war es immer gewesen, das kannte er nicht anders. Aber auch heute?
Wilde war sich nicht sicher. Da für ihn die Kontrolle mehr zählte als das Vertrauen, erhob er sich von seinem Sessel und ging auf die Tür zu.
Wenn sie noch immer beisammen hockten und miteinander flüsterten, würde er ihnen Beine machen.
Es war kälter geworden. Rocco spürte den Wind, der seine Brust traf. Er sah sich gezwungen, das Hemd bis zum Kragen hoch zuzuknöpfen. Am Himmel hatte die Dämmerung noch nicht alles Blau verschlungen. Ab und zu schimmerte die Farbe noch durch, aber sie war bereits im Begriff, sich zu verändern.
Er stellte sich so hin, daß er auch den zweiten Wagen sehen konnte-.
Die Mädchen hatten das Licht eingeschaltet und die Vorhänge zugezogen. Rocco sah ihre Schatten, wie sie sich hinter den Fenstern bewegten. Sie wollten nicht, daß ihnen jemand beim Umziehen zuschaute, auch Rocco durfte es nicht. Das interessierte ihn auch nicht. Er war zwar alles andere als ein Heiliger, aber mit seinen Angestellten fing er nie etwas an.
Ein bekannter Geruch drang in seine Nase. Zigarettenrauch. Irgendwo in seiner Nähe stand jemand, der qualmte. Wahrscheinlich der Bursche aus dem besseren Imbiß, der trotz allem versuchte, noch einen Blick durch das Fenster zu erhaschen, wo sich die Mädchen umzogen. Zudem trieb der Rauch von dieser Seite her auf Rocco zu.
Er ging hin. Dem Knaben würde er die Ohren und noch etwas anderes langziehen, wenn er ihn erwischte.
Wilde irrte sich. Carmen hatte den Wagen verlassen. Sie lehnte mit dem Rücken an der Wand des Wagens, rauchte und drehte nur langsam den Kopf nach rechts, als sie Rocco hörte.
Umgezogen war sie noch nicht, was Wilde ärgerte. »Warum bist du nicht bei den anderen?« herrschte er sie an. »Weil ich eine rauchen wollte.«
Carmen blieb stur. »Ich möchte den anderen nicht die Bude vollqualmen. Schließlich müssen wir in der Zelle noch schlafen.«
Wilde verzog die Lippen. »Was höre ich da? Zelle? Sei froh, daß du einen Job hast.«
Carmen saugte an ihrem Glimmstengel. Dabei hatte sie die Lippen gespitzt. Für Rocco sah es so aus, als wollte sie ihre Zigarette verschlingen, aber sie ließ die Kippe statt dessen fallen und trat die Glut aus. »Job?« höhnte sie. »Was ist das für ein Job, wenn wir vor geilen Typen herumhopsen müssen?«
»Was willst du denn?« Er kam näher und reckte sein Kinn vor. »Sag es! Willst du auf den Strich? Denkst du, diese Freier sind besser als die besoffenen Kerle in der Kneipe oder Disco? Da zeigst du nur deine Titten und deinen Hintern. Da wird dich keiner flachlegen und sonst was mit dir anstellen. Aber als Nutte hast du leicht ein Messer im Bauch, wenn du Pech hast. Soll ich dir erzählen, wie viele schon so geendet sind? Auf dem Strich - das ist die Hölle gegenüber deinem Job!«
Sie hob die Schultern. Eine andere Antwort wußte sie nicht. Im Prinzip hatte Rocco ja recht. Carmen gehörte zu den Verlierern. Das war bereits im Elternhaus abzusehen, wo es zwischen ihren Eltern nur Zoff gegeben hatte. Bis ihr Vater bei einer Schlägerei umgekommen war. Von Weißen gelyncht, wie es hieß. Das war noch in den Staaten gewesen, im tiefsten Süden. Mit ihrer Mutter war Carmen dann als fünfzehnjährige nach London zu Verwandten geflohen, wo ein Freund der Familie sich an ihr vergangen hatte.
Mit sechzehn war sie ausgerissen, und drei Jahre später hatte sie dann Rocco getroffen. Von ihrer Vergangenheit wollte sie nichts mehr hören, auch nichts über die letzten drei Jahre, die sie wirklich auf der Straße verbracht hatte. Ihr einziges Kapital war ihr Körper.
»Schon gut«, sagte sie. »Ich ziehe mich gleich um.«
Jetzt hatte Rocco plötzlich Zeit. »Du hast Angst, wie?«
»Ja, habe ich.« Sie schaute ihn mit verdrehten Augen an. »Ist das so unnatürlich?«
»Nein.«
»Ach.« Carmen war überrascht, daß sie nichts anderes mehr sagen konnte.
Rocco spie aus. »Glaubst du denn, daß ich aus Eisen bin? Scheiße, noch eine Tote, und wir können einpacken.«
»Du denkst nur ans Geschäft.«
»Auch.«
»Aber nicht daran, daß es dich ebenfalls erwischen könnte. Mit so etwas mußt du rechnen.«
»Ich?« Rocco öffnete den Mund und zeigte beim Grinsen seine Porzellanzähne. »Ich warte auf ihn. Er soll mir nur in die Quere kommen! Das überlebt er nicht.« Carmen sah, wie sich seine Hand zum Rücken hin bewegte und er dort eine Waffe zog. Es war ein Revolver. »Damit puste ich ihn um. Dem blase ich das Gehirn in
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