0968 - Die Greise von Eden
erlernt hatten.
»Ich bin keine Zauberin«, fauchte sie ihn an. »Löst endlich diese kindische Fessel!«
Bayan Saleh - um keinen anderen als den von Zalay erwähnten ältesten Bruder konnte es sich handeln - lächelte grimmig, während er näher trat.
»Die Fessel ist alles, was dich hält, mächtige alte Frau.«
»Ich werde nicht fliehen.«
»Ist das ein Versprechen?«
Sie nickte unwirsch. »Wenn du das brauchst, um mir zu vertrauen.«
Er schüttelte den Kopf. »Ich vertraue nur meinen engsten Angehörigen.«
»Ich wüsste ein paar Beispiele aus der Geschichte, wo gerade ›engste Angehörige‹ das ihnen entgegengebrachte Vertrauen schamlos missbrauchten.«
»Wir wollen nicht über andere sprechen«, sagte Bayan, »sondern über dich - und uns.«
»Einverstanden. Wenn du jetzt so freundlich wärst.« Sie nickte wieder zu der Fessel hin, die sie an Bayans Bruder kettete.
Bayan gab sich souveräner als erwartet. Er wandte sich an Zalay und bekräftigte seine Worte mit einer Geste. »Löse die Verbindung, Bruder.«
»Aber -« Zalay machte kein Hehl aus seiner Überraschung.
Bayan blickte Zalay eindringlich an. »Ich komme mit schlechten Nachrichten.«
»Schlechte Nachrichten?«
»Sie betreffen deinen Sohn, Naru.«
Nele sah und spürte, wie Zalay zusammenzuckte. Ein Ruck ging durch die Fessel. Es hielt Zalay nicht länger auf seinem Stuhl, er sprang auf. »Was willst du damit sagen?«
Die Fessel spannte sich und hielt Zalay davon ab, noch näher auf Bayan zuzutreten.
»Dass sie wahrscheinlich nichts damit zu tun hat - nicht mit Ramis und, ganz aktuell, auch nicht mit Narus Verschwinden.«
»Naru ist verschwunden ?« Der Schock weitete Zalays Pupillen wie bei einem mit Drogen vollgepumpten Süchtigen. »Wann? Wie…?«
»Gleich«, forderte Bayan Geduld ein. »Mach sie zuerst los. Sie ist nicht das, was wir dachten.«
Zalay zögerte immer noch - seine Gedanken waren überall, nur nicht bei Nele.
»Soll ich sie…?«, fragte Bayan.
Endlich schüttelte sein Bruder den Bann ab, in den die Nachricht ihn versetzt hatte. Fahrig löste er die Fessel von Neles Handgelenk. Er schien sein Interesse an ihr vollständig verloren zu haben.
Nele fühlte eine sofortige Veränderung, kaum dass die Verbindung zu Zalay unterbrochen war. Vorher war es ihr gar nicht so bewusst gewesen, aber mit der Rückkehr ihrer Kraft merkte sie, dass die Fessel ihr viel von ihrer gewohnten Vitalität geraubt hatte.
Sie beobachtete, wie Bayan seinen Bruder beiseite nahm und leise auf ihn einsprach. Obwohl sie nur flüsterten, verstand Nele jedes Wort genauso wie alles, was seit ihrem Erwachen an normaler Lautstärke geäußert worden war.
Was war das für ein neuer Aspekt ihrer Gabe?
Sie gab nicht zu erkennen, dass sie jeden Satz in seiner Bedeutung verstand, den Bayan und Zalay wechselten. Sie erfuhr, dass Zalays Sohn Naru am helllichten Tag aus seinem Zuhause verschwunden war. Alles, was an Spuren gefunden worden war, war ein seltsamer Schattenriss an einer Wand seines Zimmers - so wie es offenbar auch schon bei Ramis Verschwinden der Fall gewesen war.
Bayan schloss seine Worte mit der Aufforderung: »Geh. Geh heim und kümmere dich um deine Frau und die Kinder. Ich melde mich.«
»Aber sie -« Zalay blickte zu Nele.
»Damit werde ich allein fertig.«
»Unterschätze sie nicht. Sie mag alt und gebrechlich aussehen, aber -«
»Ich unterschätze sie nicht. Notfalls ist auch noch Wafa da. Geh jetzt, geh.«
Ohne Gruß verließ Zalay den Raum.
Bayan wartete, bis die Schritte verklungen waren, dann wandte er sich an Nele. »Wie ich sehe, hältst du dein Versprechen, Zauberin.«
»Du warst grob zu mir«, erwiderte Nele. »Letzte Nacht. Ich hätte mir alle Knochen brechen können.«
Er schüttelte den Kopf. »Das glaube ich nicht.«
»Nein?« Sie hob eine Braue.
»Nein. Du bist stärker als du scheinst. Lass uns darüber reden. Darüber - und über die Gründe, weshalb du nach Al Karak gekommen bist, ausgerechnet zur Zeit seiner Wiederkehr.«
»Von wem redest du?«
»Geben und nehmen«, sagte er kryptisch. Aber sie verstand, was er ihr damit sagen wollte.
»Bevor ich anfange«, sagte sie, »wie geht es meinem Begleiter? Habt ihr ihm etwas angetan?«
Bayan schüttelte den Kopf. In einer Weise, die ihm glauben ließ.
»Wo ist er?«
»Er befindet sich hier in diesem Haus, nur in einem anderen Raum.«
Nele nickte. »In Ordnung. Ich glaube dir.«
Seine Selbstsicherheit war förmlich greifbar. Nichts anderes schien er
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