0968 - Die Greise von Eden
erwartet zu haben. »Nun zu euch«, sagte er. »Zu dir und deinem Begleiter. Was hat euch nach Al Karak verschlagen. Ihr seid keine Touristen - und du bist alles andere als eine einfache alte Frau.«
4.
Nele schloss die Augen. Für ein paar Momente lieferte sie sich ganz dem aus, was Bayan Saleh »entströmte«. Auch er war mehr als ein einfacher Mann. Etwas schwer mit Worten zu Beschreibendes haftete ihm an, auf andere Weise als beispielsweise ihr selbst - aber auch bei seinem Bruder hatte Nele es gefühlt. Die beiden Männer umgab ein Geheimnis. Ob es größer oder kleiner als das Ihre war, konnte sie nicht sagen - noch nicht -, aber es war etwas, das sie zweifelsfrei über die Masse der Menschen stellte.
Sie entschied sich, auf ihre Instinkte zu vertrauen.
Demnach war der Jordanier, in dessen Gewalt Paul und sie geraten waren, kein schlechter Mensch. Wahrscheinlich gab es aus seiner Sicht gute Gründe, die ihn zu dem nächtlichen Überfall veranlasst hatten. Offenbar hatte er eine Gefahr in den beiden Fremden gesehen und war kompromisslos dagegen vorgegangen.
Wenn sie alles richtig verstanden hatte, waren zwei Kinder verschwunden, entführt worden. Bei dem einen schien es sich um Bayans Sohn, bei dem anderen um den von Zalay zu handeln.
Offenbar dachten sie ursprünglich, Paul und ich hätten etwas damit am Hut. Aber nun ist ein Junge verschwunden , während wir in ihrer Gewalt waren - wie anders als entlastend könnte das für uns wirken?
»Nein«, gestand sie ein, »keine einfachen Touristen. Aber bevor ich weiterrede, würde mich interessieren, wie ihr ausgerechnet auf uns gekommen seid. Wir haben nichts getan, um uns in den Verdacht zu bringen, etwas mit Kindesentführungen zu tun zu haben.«
Bayan nickte. »Ihr seid die Einzigen… du bist die Einzige, der etwas innewohnt, was mit den Umständen vereinbar ist, unter denen unsere Söhne geraubt wurden.«
»Willst du mir diese Umstände schildern?«
Er schüttelte den Kopf, als wäre er sich noch unschlüssig. »Zurück zu deiner Frage: Meine Hände führten mich zu dir.« Er hob beide behandschuhten Fäuste, und Nele erinnerte sich, dass Zalay Handschuhe aus dem gleichen ledrigen Material getragen hatte.
»Was heißt das?«
Er lächelte. »Um das zu erklären, müsste ich weit ausholen.«
»Ich habe Zeit.«
»Die alten Menschen, die ich kenne, haben nie Zeit«, sagte er.
Nele nickte. »Vermutlich, weil sie ihnen davonläuft und ihnen die Lebenszeit zwischen den Fingern zerrinnt.«
»Was du aber offenbar sehr gelassen nimmst.«
»Vielleicht täuscht das.«
»Das glaube ich nicht.«
Nele zuckte mit den Achseln. »Sagt dir der Name Nikolaus etwas? Hast du ihn irgendwann einmal gehört? Spielt jemand dieses Namens in Al Karak eine Rolle?«
Bayan Saleh sah sie wie jemanden an, der einem Sorgen bereitet, weil er wichtige Dinge verschweigt. Mit hörbarer Ungeduld sagte er: »Du versuchst es schon wieder.«
»Was?«
»Den Spieß umzudrehen. Ich stelle die Fragen, schon vergessen? Und ich warte immer noch auf eine ehrliche Antwort, wer du bist und was du in Al Karak suchst.«
»Ich sagte es gerade. Nikolaus.«
»Ein Freund?«
Sie nickte.
»Wann soll er hier durchgekommen sein?«
»Es ist wahrscheinlich schon länger her. Vor frühestens siebenhundertachtunddreißig Jahren.«
***
Bayan Saleh glaubte, sich verhört zu haben.
Traumwandlerisch sicher hatte er 738 von 2011 abgezogen - und war auf das folgenschwere Jahr 1273 gekommen.
1273!
Zufall?
»Sprich weiter«, forderte er die Fremde auf. »Du wolltest mich beeindrucken. Das ist dir gelungen. Wenn derjenige, den du deinen Freund nennst, vor so langer Zeit hier durchgekommen sein soll, müsstest du, um mit ihm befreundet sein zu können, damals schon gelebt haben. - Wie wahrscheinlich wäre das?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung«, sagte sie - auf jene Weise, die ihre Macht unterstrich. Er beherrschte die Sprache, die sie benutzte, nicht, und dennoch drang jedes ihrer Worte klar und verständlich in sein Bewusstsein. »Was soll ich sagen. Es ist die Wahrheit. Wenn dir Lügen lieber sind?«
Er schüttelte den Kopf. »Du magst es nicht wissen«, sagte er, »aber das Jahr, auf das du dich berufst, hat eine besondere Bedeutung für… uns.«
»Euch? Die Bewohner der Stadt?«
Er hörte kaum, was sie fragte. Seine Gedanken überschlugen sich.
»Zwölfhundertdreiundsiebzig.«
»Ich glaube«, sagte sie, »es gilt eine grundsätzliche Entscheidung zu treffen.«
Er drängte das
Weitere Kostenlose Bücher