0974 - Monsterzeit
Gesichter und Fratzen aus der letzten Nacht erinnerten.
Heute blieb der Baum normal. Er zeigte sein zweites Gesicht nicht, und das beruhigte den Killer.
Er passierte auch den Stamm.
Der andere Geruch nahm an Stärke noch mehr zu. Cameron fand ihn beinahe betäubend. Schon wütend stieß er die Luft aus, denn einatmen wollte er diesen Waldgestank nicht.
Das war nicht nur Natur. Da mischte sich noch etwas anderes dazwischen. Ihm kam der Gedanke an Blut. Altes Blut. Das Blut der alten Götter. Er lachte. Jetzt rede ich schon den gleichen Unsinn wie Greta, dachte er. Egal, sie wird mir Auskunft geben müssen.
Er ließ den Stamm hinter sich.
Der Blick war frei.
Auch der auf den Rollstuhl und nicht nur der auf die beiden Grabsteine.
Perry Cameron stand auf dem Fleck und fühlte sich selbst so starr wie ein Baumstamm. Er wollte nicht fassen, was er trotzdem sah und was nicht wegzuleugnen war.
Der Rollstuhl war leer.
Keine Spur von Greta Kinny!
Und der Killer bekam Angst…
***
Beide Fahrzeuge standen jetzt vor dem Haus, in dem Douglas Kinny seine Tochter untergebracht hatte. Suko und ich schauten an der hellen und dennoch stark gebleichten Fassade hoch, um uns einen ersten Eindruck von diesem Haus zu verschaffen.
Es war zwar nicht so stabil gebaut wie ein Blockhaus, aber leben konnte man schon darin.
Die Sonne hüllte es ein, und ihre Strahlen verloren sich auf den Fensterscheiben, deren Glas so sauber geputzt war, daß es wie Spiegelstücke glänzte.
Einen Vorgarten gab es nicht. Wer hätte ihn auch pflegen sollen?
Deshalb war auch kein Zaun vorhanden, der das Grundstück abtrennte oder umschloß.
Wir standen nebeneinander. Für Suko und mich war dieser Besuch neu, nicht aber für Douglas Kinny. Schließlich hatte er dieses Haus seiner Tochter besorgt. Aber zufrieden schien er nicht zu sein, denn der Blick, mit dem er es betrachtete, war mehr als skeptisch. Irgend etwas schien ihm nicht zu gefallen. Möglicherweise war es die Ruhe, in die das Gebäude eingebettet lag.
»Sie ist nicht da«, sagte er plötzlich.
Er hatte uns mit dieser Bemerkung überrascht. »Wie kommen Sie darauf?« fragte Suko.
»Ich spüre es einfach.«
»Das ist alles?«
»Ja.«
Ich hielt mich aus dem Gespräch heraus. Zustimmen wollte ich Kinny nicht unbedingt, aber ich konnte ihn schon verstehen.
»Wäre es nicht besser, hineinzugehen und uns umzuschauen?« fragte Suko.
»Natürlich, Inspektor, das werden wir auch tun. Ich wollte nur darauf hinweisen, was mir mein Gefühl sägt.«
»Sie haben einen Schlüssel?«
»Klar. Nur läßt meine Tochter die Türen meist offen. Zumindest am Tage.«
Es war still um uns herum. Trotz des Sonnenlichts gefiel mir die Atmosphäre nicht. Sie kam mir irgendwie falsch vor, auch sehr verfremdet, als würde weit hinter dem Licht der Sonne etwas lauern, das viel, viel stärker war.
Der Schatten. Das Unheil - und ich konnte es schmecken. Diese Erinnerung wollte einfach nicht weichen.
Die Tür sah nicht sonderlich stabil aus. Doug Kinny war vorgegangen. Er hatte viel von seiner Energie verloren, denn er ging gebeugt und wirkte um zehn Jahre älter.
Er drückte die Klinke nach unten und konnte einen Moment später die Haustür aufstoßen.
Nach ihm betraten wir den Flur, der sich zu einer kleinen Diele geweitet hatte. Ich war der letzte, schloß die Tür wieder und hörte den Ruf des Mannes nach seiner Tochter.
»Greta! Greta! Bist du hier?«
Der Ruf verhallte. Wir erhielten keine Antwort. So schnell wollte Kinny nicht aufgeben. In ihn kam plötzlich Bewegung. Er tauchte in einem Flur unter, und wir hörten, wie er Türen aufriß, in die dahinterliegenden Zimmer schaute, immer wieder einen enttäuschten Ruf ausstieß, während wir an der Treppe standen und nach oben schauten. Auch sie war aus Holz, weiß lackiert, und das Licht der Sonne spiegelte sich ebenfalls auf den hellen Stufen.
Kinny kehrte zurück. Rot im Gesicht. Er blieb vor uns stehen und hatte die Hände zu Fäusten geballt. »Mein Gefühl hat mich nicht getrogen. Greta ist nicht mehr hier.«
»Dann ist sie im Rollstuhl verschwunden?« fragte Suko.
»Ja.«
»Kann sie das denn?«
Kinny nickte. »Das Haus ist so angelegt worden, daß es ihr keinerlei Schwierigkeiten bereitet. Es ist möglich, daß sie es allein verläßt.«
»Aber das muß nicht sein«, sagte Suko.
»Stimmt. Und es ist auch nicht so gewesen. Jemand muß sie aus dem Haus geschoben haben, und dieser Jemand ist ein fremder Mann gewesen«, erklärte er mit
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