0974 - Monsterzeit
er, »die sind sogar frisch. Hierher hat man meine Tochter geschoben, das ist genau zu sehen.«
Auch wir schauten nach.
»Ja«, flüsterte Suko. »So sehen sie aus.«
Kinny hörte ihn nicht. Er war schon einige Schritte weiter nach vorn gelaufen, wo er die Spuren noch verfolgen konnte. Er sah sie auch im Gras.
»Sie führen weiter!« sagte er hechelnd. »Und sie führen auf den Wald zu. Das ist es doch!« Er sprang beinahe in die Höhe und wollte von uns einen Kommentar hören. Zumindest entnahmen wir das einem auffordernden, wilden Blick. »Sie ist im Wald!« flüsterte er. »Wer immer sie dorthin geschafft hat, er kann einen Fehler begangen haben, denn Greta kennt sich aus. Die Bäume und Pflanzen dort sind ihre Freunde, das hat sie oft betont, aber wir dürfen nicht vergessen, daß sie im Rollstuhl sitzt.«
Suko war bei Kinny und zerrte ihn herum. »Kommen Sie, jetzt hilft kein Reden mehr.«
Die beiden gingen vor. Ich setzte mich auch in Bewegung, aber wir drei wurden plötzlich gestoppt.
Nicht weil wir gegen irgendein Hindernis gelaufen waren, obgleich es uns so vorkam. Der plötzliche Halt hatte einen anderen Grund.
Es waren Schüsse gefallen.
Nicht in unserer Nähe.
Im Wald!
***
Auch noch eine Weile später kam sich Perry Cameron vor, als wäre er mit dem Kopf mehrmals gegen die Wand gelaufen. Er konnte es einfach nicht fassen, daß seine Geisel ihren Rollstuhl verlassen hatte. Sie war doch gelähmt gewesen, davon hatte er sich überzeugen können.
Nicht am Tag, nur in der Nacht.
Das jedenfalls hatte sie ihm gesagt. Aber er wußte auch, daß sie ihn ebensogut angelogen haben konnte. Dieses Weibsstück war raffinierter als tausend Schlangen, und es schien verdammt viel von seinem Vater gelernt zu haben.
Er stand einfach nur da und schwitzte.
Diesmal war es kein normaler Schweiß, der durch eine zu starke Wärme aus den Poren drang. Nein, hier erlebte er einen anderen, den kalten Angstschweiß, der auf seinem Körper klebte, und das, obwohl er nicht unmittelbar bedroht wurde.
Seinen schallgedämpften Revolver hielt er noch fest. Er schaute auf die Waffe und dachte daran, daß ein Schalldämpfer nicht unbedingt gut war, wenn er auf eine größere Entfernung sein Ziel anvisierte. Da war es besser, wenn man sich von ihm trennte. Also schraubte er ihn ab und behielt die Umgebung dabei im Auge.
Sie war ruhig. Es gab keine Veränderung. Der Rollstuhl kam ihm vor wie ein Fremdkörper, der nicht in diese Region hineingehörte. Er lauschte dem leisen Rascheln der Blätter über seinem Kopf, als wollten ihm diese eine Botschaft bringen und ihn auslachen.
Wieder störte ihn der Geruch. So bitter. So süßlich und so gräßlich stinkend.
Viel schlimmer als sonst. Als wäre eine gewaltige Woge dabei, auf ihn zuzudrängen.
Aber woher?
Cameron konzentrierte sich.
Von vorn nicht und auch nicht von den Seiten. Also blieb nur eine Möglichkeit: in seinem Rücken.
Er wollte sich umdrehen und nachschauen, als er hinter sich das Kichern hörte. Hell und doch irgendwie neutral. Eine Frau konnte es ebensogut abgegeben haben wie ein Mann. Aber die Stimme, die ihn ansprach, gehörte einer Frau. »Hallo, Killer…«
Es war Greta. Er kannte ihre Stimme. Sie hatte ihn angesprochen. Er wußte Bescheid.
Er wirbelte herum und riß seine Waffe hoch.
Dann hörte er sich schreien.
Nur drang kein Laut nach außen, obwohl sein Mund weit offenstand. Der Schrei war in seinem Innern aufgebrandet, und er blieb auch dort. Er durchtoste ihn, ließ ihn zittern, noch stärker, als er Greta vor sich sah.
War das Greta?
Er konnte es nicht sagen. Denn sie sah weder wie Greta aus noch wie Rosenrot.
Vor ihm stand das bluttriefende Monstrum, das er schon in der Nacht zuvor gesehen hatte…
***
Plötzlich hatte sich der unheimliche und zugleich romantische Wald für Cameron in den Vorhof der Hölle verwandelt. Er war aus der Wirklichkeit ausgeschieden und in eine andere Welt hineingepusht worden, die er nicht mehr begriff.
Das Monstrum hatte sich nicht verändert. Aber er wußte jetzt, daß sich Greta darin verwandelt hatte. Sie war zu ihrer zweiten Persönlichkeit geworden. Wirklich zu einer blutigen Rosenrot.
Er packte es nicht. Der Killer atmete, als hätte er einen Asthmaanfall bekommen. Das Röcheln hörte sich furchtbar an, und immer wieder »trank« er diese widerliche Luft.
Wie schon in der Nacht am Fenster, so bewegten sich auch jetzt die Augen des Monstrums. Sie rollten in den Höhlen wie zwei weiße, kalte Monde.
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