0976 - Die Leichen der schönen Charlotte
auf und deuteten durch ihr Outfit an, zu welcher Berufsgruppe sie gehörten.
Nicht bei Charlotte. Da stimmten die gesamten Urteile und Vorurteile nicht. Von ihrem Aussehen und ihrem Gehabe warf sie alles über den Haufen.
»Warum denkst du über mich nach, Dick?«
»Tue ich das?«
»Klar, das weiß ich. Die meisten meiner Gäste denken über mich nach. Sie versuchen sich mit Macht einzureden, daß sie es mit einer Hure zu tun haben und nicht mit einer Frau, die man heiratet und nachher beschützen möchte.«
»Stimmt«, gab Stevens zu. »Du paßt einfach nicht in dieses Bild hinein.«
Sie lachte so silberhell auf, wie er es selten erlebt hatte. »Das macht dich unsicher, wie? Ich glaube schon, daß es dich verunsichert. Du wärst nämlich der erste, der darüber hinweggehen würde. Alle sind verunsichert gewesen. Manche sogar so stark, daß sie einfach nicht mehr zurechtkamen und verschwanden. Sie hatten immer das Gefühl, vor ihrer eigenen Tochter zu stehen, weil sie doch aus einer so sauberen und völlig intakten Familie stammen, zumindest nach außen hin.«
»Daran habe ich nicht gedacht. Aber ich könnte nicht dein Vater sein.«
»Da hast du recht«, gab sie lachend zu. Dann faßte sie nach seiner linken Hand. Er hatte beide auf seine Oberschenkel gelegt gehabt, und sie hob die Linke an. Sie führte die Hand auf ihren Körper zu. Dabei blieb sie in der gleichen Höhe.
Dick sah das Ziel. Es war ihre Brust. Er merkte, wie seine Kehle eng wurde. Wieder klopfte sein Herz schneller. Verdammt noch mal! schalt er sich selbst. Reiß dich zusammen! Du hast deinen Job jahrelang durchgeführt. Du bist jemand, der sich in der Unterwelt auskennt. Du hast so manche Tussi hochgenommen, die dealte oder ihre Freier ausraubte. Du kennst London, wo es am schlimmsten ist. Du hast im menschlichen Dreck gewühlt und…
»Gefällt es dir?« unterbrach Charlottes Frage seine Gedanken.
Er zuckte mit den Lippen, dann schaute er auf seine Hand, die genau auf der rechten Brust lag. Noch leicht, beinahe wie eine Feder, aber er spürte unter den Fingern die weichen Formen und die Wärme.
»Sicher«, gab er zu.
Sie nahm seine Hand nicht weg. Charlotte verstärkte den Druck sogar. Er bewegte unwillkürlich seine Finger. Dabei spürte er den heißen Strom durch den Körper rinnen. Der Schweiß lag ihm auf der Stirn und der Oberlippe.
Charlotte hatte ihren Oberkörper zurückgelegt. Um nicht in den Brunnen zu fallen, stützte sie sich mit der anderen Hand auf dem Rand ab.
»Ja, das ist schön«, flüsterte sie. »Das tut gut. Ich liebe es, wenn du weitermachst. Hör nicht auf, bitte. Hör nicht auf…«
Er hörte nicht auf, denn auch Dick gefiel es. Aber tief in seiner Gedankenwelt baute sich schon die Frage auf, warum sie das überhaupt tat. So reagierte niemand, der sein Geld mit fremden Männern im Bett verdiente. Das widersprach allen Klischees. Oder war sie eine besonders gute Schauspielerin?
Seltsam - aber dieser Gedanke wollte ihm nicht gefallen. Nein, so konnte niemand schauspielern.
Keine war so perfekt. Schon gar nicht in diesem brutalen Gewerbe.
Sie machte weiter und drückte seine Hand sanft nach unten.
Dick Stevens ließ alles mit sich geschehen. Auch er hatte den Blick gesenkt, um die Hand zu beobachten, die ihm in diesen Augenblicken wie ein Fremdkörper vorkam. Das konnte er nicht sein, das war er nicht. Das war ein Fremder, der in seine Haut geschlüpft war. Das ging ihm einfach zu sehr an die Nieren.
Er spürte ihre Hüfte, danach den Oberschenkel. Weich, aber auch fest. Dick senkte den Blick. Durch den dünnen Stoff schimmerte das dunkle Dreieck der Scham.
Er schluckte.
»Gefällt es dir, Dick?«
»Sicher.« Er konnte nur flüstern.
»Es ist erst der Anfang«, sagte sie.
Er mußte sich räuspern. »Der Anfang wovon? Wie meinst du das genau?«
»Vom Ende!«
Plötzlich hatte sich ihre Stimme verändert. Sie klang hart und metallisch. Sie war zu einem derartigen Gegensatz geworden, daß der Mann damit nicht zurechtkam.
Bevor er die Antwort richtig einsortiert hatte, war es bereits zu spät. Sie löste seine Hand von ihrem Körper, und aus der Bewegung heraus erfolgte der Rundschlag.
Dem Treffer konnte er nicht ausweichen.
Dick Stevens kippte nach hinten. Da war nichts mehr, an dem er sich festhalten konnte.
Nur noch der Schacht.
Und in ihn fiel er hinein.
***
Obwohl alles nur Sekunden dauerte, erlebte Dick Stevens diese Zeitspanne so intensiv wie selten etwas in seinem Leben. Die Zeit schien sich
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