0979 - Der Totenhügel
Das Profil ihres Gesichts sah aus wie scharf gezeichnet. Wenn ich mich nicht irrte, hielt sie die Augen geschlossen. So wie sie lagen oft die Mitspieler eines Hypnotiseurs.
Einen Widerstand in ihrer Nähe gab es nicht. All das feste Material war wie weggeschwemmt worden.
Sie konnte frei schweben, und sie hätte sich auch frei bewegen können.
Ein helles Lachen durchbrach die Stille. Lilian hatte es ausgestoßen. Sie zeigte damit ihre Freude, und sie hielt sich auch mit Worten nicht zurück. »Du bist es, Freundin. Ich weiß, dass du zu mir willst, und ich will zu dir. Bitte, tu mir den Gefallen. Bitte, ich möchte dich anfassen können. Ich weiß, dass du anders bist. Ein Stück deiner Seele ist in mir, und ich werde es immer behalten. Bitte…«
Das letzte Wort hatte sie schon flehend ausgesprochen. Ihre Augen leuchtete noch heller. Sie konzentrierte sich einzig und allein auf die Frau im Totenhügel.
Mit ihr geschah etwas. Bisher hatte sie steif wie ein Brett gelegen. Plötzlich aber bewegte sie sich, und sie glitt dabei in die Höhe, als wäre sie von Bändern nach oben gezogen worden.
Es geschah nicht schnell, nicht ruckartig, sondern sehr langsam. Der Ansturm dieser fremden Gedankenwelt, die ich erlebt hatte, war nicht mehr vorhanden. Die Person konzentrierte sich einzig und allein auf sich und ihre Reise.
Sie erreichte die Hügeldecke. Nicht weit entfernt standen die Kerzen. Die Flammen huschten wie geisterhafte Finger. Ich befürchtete, dass die Person erwischt wurde wenn sie tatsächlich den Hügel verließ, denn Körper und Kleidung gaben dem Feuer Nahrung.
»Verbrennen soll sie uns nicht«, sagte Suko leise. »Zur Not müssen wir eingreifen.«
»Ja, aber erst mal abwarten. Sie wird genau wissen, was sie tut. Das glaub mal nur.«
»Okay.«
Noch hatte die Person die Grabdecke nicht durchbrochen. Ich gab mir die Zeit, einige Blicke auf unsere Begleiter zu werfen. Sie standen in dem Bann dieses unheimlichen Geschehens.
Lilian Kline hielt die Arme halb erhoben. Sie hatte die kleinen Hände zu Fäusten geballt. Es war bei ihr mit einer Pose der Siegerin zu vergleichen, die endlich am Ziel ihrer Wünsche angelangt war. Auf ihrem Mund stand das Lächeln wie eingeschnitzt, und wenn sie atmete, tat sie es nur durch die Nase.
Ihr Onkel rührte sich auch nicht. Seiner Haltung war zu entnehmen, dass die fremde Person aus den Tiefen des Alls bereits Kontakt mit ihm hatte. Der Widerschein aus Licht und Schatten huschte über sein Gesicht und gab ihm ein künstliches Aussehen.
Blieb noch Cody. Er war starr geworden. Seinen rechten Fuß stemmte er auch weiterhin gegen den Hügel, aber er traute sich nicht, den Hang hochzuklettern.
Wir alle warteten auf den Augenblick, wo die Person die Grabdecke durchbrach.
Und das passierte lautlos, als wäre diese flache Hügelkuppe gar nicht vorhanden. Es ging auch so übergangslos, dass wir es erst bemerkten, als sie schon im Freien schwebte und wir befürchteten, von den Kerzenflammen verbrannt zu werden.
Sie bewegten sich auch stärker. Sie tanzten, sie glitten sogar über die Kleidung hinweg, aber sie setzten weder den Körper noch den eng gewickelten Stoff in Brand.
Die Fremde war die Siegerin. Sie war die Göttin. Sie war Nike, die Siegesgöttin.
Sie blieb über dem Kerzenlicht schweben, als sollte ihr Rücken von den Flammen geröstet werden.
Auch jetzt lagen die Arme dicht am Körper, das Gesicht zeigte eine konzentrierte Starre. Das blonde Haar hing nach unten und verbrannte ebenfalls nicht.
Ein Rätsel…
»Freundin«, rief Lilian jubelnd. »Da bist du ja endlich. Ich freue mich. Komm, ich möchte…«
»Das Kind darf nicht laufen!« sagte Suko.
Er wollte hin, um es festzuhalten, aber jemand anderer setzte sich zuerst in Bewegung. Er startete mit einem heulenden Laut. Er bewegte seine dünnen Arme wie Stöcke und hetzte dabei geduckt den Hügelhang hoch, um die Frau zu erreichen.
Es war nicht einfach. Das Gras war durch die Feuchtigkeit glatt geworden. Vor dem Kerzenlicht sahen wir ihn als einen Schatten, der sich zuckend bewegte, mal nach vorn kippte, sich wieder aufraffte, um seinen Weg fortzusetzen.
Auch die Frau blieb nicht mehr auf dem Rücken hegen. Sie drückte sich von ihrer waagerechten Haltung aus in die Höhe, um in der Luft und über den Flammen schwebend stehen zu können.
Unwahrscheinlich für uns. Wir hielten den Atem an, aber Cody bewegte sich weiter.
Er fiel hin. Es war vorauszusehen gewesen, dass er nicht nur auf dem Boden landete,
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