0979 - Die Schlacht von London
Dummkopf. Aber sie können nicht mehr sprechen, es gibt sie nicht mehr. Jetzt - bist du ganz allein!
Ganz allein. Nach ihren Eltern und Tom hatten sich nun auch noch die letzten Vertrauten aus ihrem Leben verabschiedet.
Wenigstens waren die Tränen, die über Carries Wangen rannen, warm und nicht so quecksilbrig kalt wie das Blut, das sich durch ihre Adern wälzte.
***
»Sieh dir das an!«, rief Nicole mit zittriger Stimme.
Vom Ende des Gartens aus, wenn man in die dem Cottage entgegengesetzte Richtung blickte, hatte man freie Sicht auf die City von London.
Oder das, was aus ihr geworden war.
Eine Weile starrten sie einfach nur schweigend auf das verstörende Panorama einer von Wildnis überwucherten Stadt, deren einst stolze Gebäude schon nach einem Jahr sichtbar dem Verfall preisgegeben waren.
Schließlich räusperte sich Zamorra und sagte: »Das ist genau die Perspektive, aus der ich bei meiner verzögerten Rückkehr von Karenja auf die Wahrzeichen Londons schaute. Du weißt, wovon ich rede.«
Sie nickte.
Damit hatte sich London nach Monaten erstmals wieder nachhaltig in Erinnerung gerufen.
Nicht dass man eine Stadt, die aus der allgemeinen Realität herausgeschnitten und unzugänglich wird, tatsächlich vergessen könnte.
Die Welt hatte, als das geschah, den Atem angehalten. Und Zamorra wusste, dass sie es seither nicht wieder geschafft hatte, zu echter Normalität zurückzufinden.
Wie auch? Dort, wo London liegen sollte, erhebt sich jetzt ein Nebelklotz von unfassbaren Ausmaßen. Wir werden täglich daran erinnert, dass sich hier die größte Katastrophe der bekannten Menschheitsgeschichte nicht nur ereignet, sondern dauerhaft manifestiert hat.
»Die Stadt wirkt wie ausgestorben.« Nicoles Stimme war nicht lauter als ein Flüstern.
»So mag sie wirken«, erwiderte Zamorra. »Aber sie ist es definitiv nicht.« Er zeigte auf die Geschöpfe, die ohnmächtig nah bei ihnen im Gras lagen.
Nicole wirkte nicht überzeugt. Wieder richtete sie den Blick auf das Stadtpanorama. »Wie kann ein Baum dieser Größe wachsen?« Sie meinte den Giganten, dessen Krone all das überdachte, was vor einem Jahr für den Rest der Welt unbetretbar geworden war.
Zamorra verzichtete auf eine Antwort. Weil er keine hatte.
»Das darunter«, fuhr Nicole fort, »sieht fast so aus wie auf Yucatan, du weißt schon: die verlassenen Mayastädte. Dschungelüberwuchert. Noch ein paar Jahre, dann wird von den Ruinen kaum noch was zu sehen sein. Ehrlich.« Sie richtete ihren Blick unvermittelt auf Zamorra und sah ihn durchdringend an. »Dagegen haben wir doch keine Chance.«
Zamorra hielt ihrer aufkeimenden Hoffnungslosigkeit stand. Er schüttelte den Kopf. »Es gibt immer eine Chance. Und es gibt hier eine Gefahr, die offenbar kurz davor steht, auch zur Bedrohung der ›Außenwelt‹ zu werden. Selbst wenn wir London nicht mehr retten können, oder seine Bewohner - so unsagbar traurig und erschütternd das wäre -, so müssen wir doch zumindest versuchen, den Rest der Welt vor dem zu bewahren, was sich hier zusammenbraut.«
»Darüber haben wir bislang nur kryptische Andeutungen - das, was die todesmutigen Kreaturen nach draußen schleusten, die ihr an der Peripherie des Nebels fandet.«
»Dann müssen wir eben herausfinden, worum es geht.«
»Willst du die da befragen?« Nicole zeigte auf die Paralysierten.
»Das wäre die eine Option.«
»Auf mich machten sie nicht den Eindruck, als ließen sie mit sich reden. Wie sieht dein Plan B aus?«
Zamorra zuckte mit den Achseln. »Lass uns die Kleine finden.«
»Das schwarze Mädchen, das im Château herumspukte?«
Er nickte und zeigte auf das Cottage. »Wahrscheinlich ist sie da drin.«
»Glaubst du, sie hilft uns - und sei es auch nur, indem sie uns ein bisschen über die Lage hier verrät?«
»Ich hoffe es. Bei meiner Ankunft war sie eher störrisch. Sie wollte mir weder helfen noch mich wieder gehen lassen. Aber jetzt bist du ja da. Du kannst vielleicht besser mit ihr.«
Nicole verzog zweifelnd das Gesicht. Dann zeigte sie zu einem kraterähnlichen Loch auf dem Weg zum Haus.
»Das sieht aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen.«
Zamorra warf einen letzten Blick auf die Gestalten, die sich frühestens in ein paar Stunden wieder erheben würden -jedenfalls, wenn der menschliche Anteil ihrer Körper wenigstens noch fünfzig Prozent ausmachte. Dann setzte er sich Richtung Krater - und damit auch Richtung Cottage - in Bewegung.
Am Rand des Loches blieb er stehen und bückte
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