098 - Der Kerkermeister
wollte?
Genügend Zeit zum Nachdenken hatte ich. Doch ich fand keine Erklärung.
Ich wußte nicht, wie lange ich schon in meinem schachtartigen Gefängnis lag. Das Narbengesicht, das mir das Essen brachte, reagierte auf keine meiner Fragen, und meine wilden Beschimpfungen schienen es nicht zu stören. Ich vermutete, daß ich täglich nur einmal zu essen bekam. Bei meiner Ankunft in China war ich noch recht beleibt gewesen. Jetzt war ich dürr. Ich versuchte, mich körperlich in Form zu halten. Mit den Beinen strampelte ich, und die Kraft meiner Arme erhielt ich mir durch Liegestützen. Trotzdem merkte ich, daß ich von Tag zu Tag schwächer wurde.
Vor dem Tod fürchtete ich mich nicht. Ich war unsterblich. Im Augenblick meines Todes wanderte meine Seele in den Körper eines Neugeborenen. Aber ich wollte nicht sterben. Ich hing an meinem Leben als Michele da Mosto.
Ich war völlig abgestumpft, lethargisch und schwach. Mein Körper war wund, und die Wunden verheilten nicht.
Wieder einmal wurde die Tür geöffnet. Mühsam wälzte ich mich herum und wollte nach dem Becher greifen. Doch das Narbengesicht hatte ihn nicht hingestellt.
Eine Hand krallte sich in mein Haar und riß brutal daran. Gequält stöhnte ich auf. Eine zweite Hand packte mein rechtes Handgelenk und riß mich aus dem Gefängnis heraus. Ich fiel wie ein Sack zu Boden und blieb benommen liegen.
Schwerfällig hob ich den Kopf und starrte das Narbengesicht an, das nun eine karminrote Robe trug. Sein Gesicht verzerrte sich. Ich versuchte auszuweichen, doch ich reagierte zu spät. Der Kerl hielt einen Prügel in der rechten Hand, mit dem er nach mir schlug. Der Stock traf meine Schultern. „Aufstehen!" zischte das Narbengesicht.
Ich setzte mich, klammerte mich an einen Griff und zog mich hoch. Doch meine Knie gaben nach. Ich fiel auf den Bauch. Wieder bekam ich einen Schlag über den Rücken.
„Aufstehen!"
Nochmals versuchte ich es. Ich mobilisierte all meine Kräfte. Zitternd lehnte ich an einer rauhen Wand.
Jetzt erst nahm ich meine Umgebung wahr. Ich stand in einem breiten Gang. An beiden Seiten befanden sich kleine Türen. Sicherlich, befanden sich dahinter diese schachtartigen Zellen.
Das Narbengesicht prügelte mich den Gang entlang. Zweimal fiel ich zu Boden, doch seine Hiebe brachten mich rasch wieder hoch. Er trieb mich auf eine offenstehende Tür zu, aus der Dampfwolken drangen. Vor der Tür blieb ich stehen. Das Narbengesicht gab mir einen Tritt ins Hinterteil, und ich taumelte in den winzigen Raum, verlor das Gleichgewicht und fiel in den Schacht. Entsetzt schrie ich auf. Der Schacht war mit heißem Wasser gefüllt. Ich tauchte unter und stieß verzweifelt mit Armen und Beinen um mich. Endlich durchstieß mein Kopf die Wasseroberfläche. Gierig schnappte ich nach Luft.
Das Narbengesicht stand grinsend vor mir. Mit beiden Händen hielt er eine lange Stange, deren Spitze mit einem Dreizack versehen war. Er stieß nach mir. Ich wich aus, und dabei versank ich wieder im Wasser. Sooft ich auftauchte, stach er nach mir. Ich tastete die Wände ab. Sie waren glatt, und das heiße Wasser roch süßlich.
Nun wurde mir klar, was das Narbengesicht wollte. Er wollte mich gar nicht verletzen - ich sollte mich waschen. Gehorsam tauchte ich unter und rieb mich mit den Händen ab und wusch mir das Haar und den Bart.
Schließlich hielt mir das Narbengesicht die Stange hin. Ich klammerte mich daran fest, und er zog mich aus dem Wasser.
Er warf mir zwei duftende Tücher zu, und ich trocknete mich sorgfältig ab. Jetzt fühlte ich mich wieder wie ein Mensch. Dann reichte er mir einen einfachen schwarzen Kimono. Langsam schlüpfte ich hinein und band ihn mit einer dünnen Schnur zu. Das Narbengesicht warf mir Strohpantoffeln zu.
Zwei Krieger in schwarzen Rüstungen traten durch eine Tür. Sie zerrten mich eine Treppe hoch.
Auf meine Fragen gaben sie mir keine Antwort.
Die beiden trugen mich fast. Vor einer kunstvoll verzierten Tür blieben sie stehen. Die Tür wurde von zwei Kriegern bewacht. Einer stieß die Tür auf und sagte etwas. Eine tiefe Stimme antwortete ihm.
Ich wurde hochgerissen und in das Zimmer gestoßen. Ich stolperte und fiel der Länge lang hin. Einige Sekunden blieb ich benommen liegen. Ich hob den Kopf, und mein Blick fiel auf einen thronartigen Stuhl, in dem ein dicker Japaner saß. Sein Gesicht war aufgedunsen, und sein kurz geschnittenes Haar war eisgrau. Die mandelförmigen Augen starrten mich gnadenlos an. Selten hatte ich
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