0981 - Tränenjäger
Moment lang schwankte er kurz, schaffte es jedoch, das Gleichgewicht zu behalten. Hastig streifte er sich seine Soutane über und zog sich die Schuhe an.
In diesem Moment wiederholte sich der Schrei.
Aber was Domingo in seiner Schlaftrunkenheit für einen Hilfeschrei gehalten hatte, war offensichtlich alles andere als das.
Vielmehr klang es wie ein wütendes, gieriges Heulen.
Es hörte sich hungrig an.
Unwillkürlich lief dem braven Pater ein Schauer über den Rücken. Jetzt war es also soweit! Das Böse erwachte…
Mühsam schaffte es Domingo, seine aufkeimende Panik zu unterdrücken.
Das Böse mag stark sein, sagte er sich grimmig, aber es hat auch einen Gegenpart. Darum hat der Herr uns berufen! Damit wir uns dem Übel tapfer entgegenstellen.
Domingo griff nach dem großen Kruzifix, das neben seinem Bett über der Nachttischkonsole hing. Instinktiv küsste er das geweihte Holz, sandte ein Stoßgebet gen Himmel und stürmte dann hinaus auf den Flur.
In diesem Moment waren all seine Selbstzweifel und Ängste nebensächlich geworden. Domingo handelte.
Eine Schwester kam ihm atemlos entgegen. Einige Meter hinter ihr konnte er Doktor Delgado erkennen.
»Was war das?«, fragte die Schwester fast panisch.
»Ich weiß es nicht«, antwortete der Priester wahrheitsgemäß. Er fasste die junge Frau an den Schultern und sah ihr tief in die Augen.
»Hören Sie, Sie müssen jetzt ruhig bleiben. Es ist wichtig, dass wir nicht die Nerven verlieren.«
Die Schwester nickte langsam. Es fiel ihr offenbar deutlich schwer.
Domingo warf seinem alten Freund einen Seitenblick zu. »Hast du eine Waffe?«, wollte er wissen. »Sei ehrlich!«
Auch wenn die Bedrohung durch Guerilla-Kämpfer und Banditen im Alltag immer gegenwärtig war, duldete der Priester doch keine Mordwerkzeuge in seinem Haus. Er war ein Mann des Friedens und deshalb wollte er auch mögliche Konflikte stets gewaltfrei lösen.
Diesmal hatte er jedoch aus unerfindlichen Gründen das dumpfe Gefühl, als könne eine Waffe ganz hilfreich sein.
Doktor Delgado nickte langsam. »Ja«, gab er zu, »aber sie ist nicht mehr die neueste!«
»Egal«, entschied Domingo. »Hol sie und dann komm mir nach. Ich will herausfinden, was da los ist!«
Der Doktor warf sich herum und rannte zurück in sein Zimmer.
»Sie bleiben hier«, befahl Domingo der verängstigten Schwester. Dann wandte er sich kurz entschlossen um und ging entschlossen auf die Eingangstür zu.
Obwohl es draußen bereits Nacht war, hatte es sich nicht wesentlich abgekühlt. Die Luft war immer noch zum Schneiden dick. Nach all den Jahren des Dienstes im Urwald machte Domingo das Klima in der Regel nichts mehr aus. Als er nun ins Freie trat, fühlte er sich allerdings, als würde ihm jemand einen Hammerschlag versetzen.
Domingo atmete tief durch und blickte sich um. In einiger Entfernung konnte er den Dschungel sehen. Zu seiner Rechten zeichneten sich die Umrisse der Missionskapelle wuchtig am Himmel ab. Auf der linken Seite des Geländes befanden sich das Hospital und der angrenzende Friedhof.
Und von dort kam auch der unheimliche Lärm, wie Domingo feststellen durfte, als sich erneut das wütende Heulen in die Nachtluft erhob.
Die Miene des jungen Priesters versteinerte.
Keine Zeit mehr, um auf José zu warten , entschied er knapp. Ich muss das alleine machen!
Schon setzte er sich in Bewegung und sprintete los. Eilig umrundete er das Hospital, bis er den durch eine kleine Mauer eingegrenzten Friedhof erreichte.
An normalen Tagen lächelte Domingo, wenn er den Gottesacker zu Gesicht bekam. Das Gräberfeld war vor vielen Jahrzehnten angelegt worden. Damals hatte es hier noch eine größere Ansiedlung gegeben. Auch die Kapelle stammte aus dieser Zeit. Heutzutage war die Siedlung längst vergangen, die prachtvollen Grabsteine indessen waren zurückgeblieben.
Als Domingo diesmal auf den Friedhof trat, war ihm nicht nach Lächeln zumute. Im Gegenteil, er hatte eine Heidenangst.
Steh mir hei, Herr, dachte er und warf einen kurzen Blick gen Himmel, bevor er den ersten Fuß auf den breiten Kiesweg setzte. Auf dass ich in Deinem Sinne handele und nicht den Mut verliere.
Der Weg endete bereits nach wenigen Metern, dann war da nur noch knöchelhohes Gras. Der Dschungel war dabei, sich sein Terrain zurückzuholen.
Wieder blickte sich Domingo um. Hinter den großen Grabsteinen und verwitterten Statuen war es ein Leichtes, sich zu verstecken und ihm dann im geeigneten Moment in den Rücken zu fallen. Aber
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