0987 - Das Seelenloch
oder Kollegen gesehen, gegrüßt, aber sie grüßte nicht zurück. Sie marschierte an ihren Bekannten und Freunden vorbei und mußte ihnen vorkommen wie jemand, der in einer tiefen Trance gefangen war. Es sprach sie jedoch niemand darauf auf, denn sie machte den Eindruck einer Person, die wie von einer unsichtbaren, aber gefährlichen Aura umgeben war.
Die Hände hatte sie in den Taschen des Wollmantels vergraben. Den Kopf hielt sie gesenkt.
Auf der gegenüberliegenden Straßenseite befand sich die Post. Sie war in einem grauen Steinhaus untergebracht. Viele Menschen hatten dort zu tun. Sie betraten das Gebäude oder verließen es. Lichter warfen ihren Schein auf den grauen Boden.
Karin ging weiter. Den Kopf gesenkt, aber sie wurde nie langsamer oder schneller. Sie schien an einer unsichtbaren Schnur zu hängen, an der gezogen wurde, damit sie zu ihrem Ziel kam.
Der Abend kündigte sich an. Mit ihm kam die Dämmerung, und sie brachte die Schatten. Sie hatten sich bereits über die Hänge im Westen gelegt und krochen immer tiefer.
Nur im Osten lagen die Berge noch frei. Sie stachen hinein in das letzte Licht der Sonne. Auch sie hatten ihren gelben Schimmer verloren und an Röte zugenommen.
Das Hexerl lief schneller. Das Ziel kannte sie nicht, was ihr auch nichts ausmachte. In ihrem Innern steckte die Gewißheit, daß die andere Macht es schaffen würde, sie an eine bestimmte Stelle zu lenken, wo dann alles anders aussah.
Nach der Kurve blieb sie vor einer nach rechts in die Berge hineinführenden Straße stehen. Sie war schmaler als die Hauptfahrbahn. Ein Auto huschte an Karin vorbei, so dicht, daß es sie beinahe erwischt hätte. Dafür hatte Karin keinen Blick, denn mit erhobenem Kopf schaute sie auf die andere Seite der Straße hinüber.
Dort lag ihr Ziel!
Karin atmete tief durch. Die Augen hinter den Gläsern der Brille waren aus ihrer Starre erwacht und zuckten. Sie wußte jetzt, was sie wollte, obwohl sie unter einer Fremdeinwirkung stand.
Auf der anderen Seite hob sich der Bau der Dorfkirche ab. Aber nicht sie war Karins Ziel. In eine Kirche hätte sie sich nie hineingetraut, ihr ging es einzig und allein um die nähere Umgebung der Kirche. Eine Mauer friedete das Grundstück ein. Allerdings stand das Tor offen. Das führte zu dem Friedhof.
Man hatte ihn um die Kirche herum angelegt. Wunderschöne und auch gepflegte Gräber, denn in den Bergdörfern gab man sich damit große Mühe. Karins Lippen zuckten, aber sie konnte sich nicht zu einem Lächeln durchringen.
Länger als eine Minute blieb sie am Rand der Straße stehen, um auf die andere Seite zu schauen.
Ein einsames Licht leuchtete neben dem Gittertor wie eine verlorene Seele, die keine Ruhe hatte finden können. In dem blassen und schmalen Gesicht der jungen Frau zuckten die Wangen. Ansonsten stand sie unbeweglich und schaute auf die gegenüberliegende Seite der Straße wie jemand, der auf einen bestimmten Befehl wartet.
Der erreichte sie.
Karin selbst konnte ihn nicht identifizieren. Sie wußte nicht, ob es ein Gedanke war oder ein Ruf, aber sie spürte Schauer über ihren Rücken rinnen.
Ohne nach links oder rechts zu schauen, setzte sich die junge Frau in Bewegung. Sie hatte Glück, denn kein Auto kam.
Karin ging mit steifen Schritten über die Straße. Immer mehr war sie zu einer Marionette geworden, die sich von anderen Kräften führen und leiten ließ.
Die den Friedhof umgebende ziemlich hohe Mauer zeigte eine graue Farbe. Sie war so hoch, daß Karin nicht hinüberschauen konnte, was sie auch nicht wollte, denn sie steuerte auf dem direkten Weg das offene Tor an.
Über den glatten Asphalt hatte sie noch ziemlich lautlos gehen können.
Es änderte sich, als sie das Gelände des Friedhofs betreten hatte, denn hier waren die Wege zwar auch glatt, aber dennoch mit kleinen Steinen belegt.
Für Karin war es, als hätte sie eine andere Welt betreten, die ihr aber nicht fremd vorkam. Sie war hier zu Hause, sie wurde hier erwartet, aber sie konnte niemanden sehen, der sie ansprechen wollte.
Der Friedhof war leer.
Nein, nicht richtig leer, denn um die Kirche herum verteilten sich halbkreisförmig all die gepflegten Gräber mit dem Blumenschmuck, den Votivbildern, den mit Weihwasser gefüllten Schalen, den verschiedenen Kreuzen oder Grabsteinen, wo die Namen all derer aufgeführt worden waren, die in den Gräbern lagen.
Auf dem Friedhof war es still. Der mächtige Bau der Kirche und auch die hohe Mauer hielten nicht nur den Wind ab,
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