099 - Der steinerne Gott
blauen Himmel frei. Vor ihnen lag ein grünes Tal, das sich bis auf fünfhundert Meter verbreiterte. Aus einer Bodenspalte sprudelte ein haushoher Geysir, dessen heißes Wasser von einem Bachbett aufgefangen und längs durch das Tal geleitet wurde. Die heißen Wasserdämpfe bildeten dampfende Nebel., die schnell hochstiegen und die Eisbrücken daran hinderten, sich über dem Tal zu schließen. Die Dampfschwaden verhinderten aber auch, daß man weit sah, so daß Dorian die Länge des Tales nicht einmal abschätzen konnte.
„Das ist Torisdalur", sagte Magnus Gunnarsson ergriffen.
„Wie weit erstreckt sich dieses Tal?" fragte Dorian.
Eine banale Frage angesichts dieses Naturwunders. Oder sollte man nicht besser sagen: angesichts dieses magischen Phänomens?
„Haben Sie noch etwas Geduld, Dorian", bat Gunnarsson, der nun wie verwandelt war. Er hatte auf einmal nichts von dem eiskalten Rechner, dem überheblichen Spötter und dem arroganten Zyniker an sich, als den Dorian ihn kannte. „Gleich sind wir beim Tempel. Passen Sie auf! Wenn die Nebel sich lichten…"
Gunnarsson unterbrach sich mit einem erstaunten Ausruf. Worauf er Dorian hatte vorbereiten wollen, kam für ihn selbst völlig überraschend, obgleich er den Anblick kennen mußte.
Die Nebeldämpfe wurden von einer Brise davongewirbelt, und auf einmal tauchte vor ihnen ein gigantisches Monument auf, das mit nichts - außer vielleicht der ägyptischen Sphinx -vergleichbar war.
Keine hundert Meter vor ihnen erhob sich ein gut fünfzig Meter hohes Standbild aus rötlichem Gestein, das weiß gefleckt war. Das Monument stellte eine menschliche Gestalt dar, die auf einem thronartigen Sitz ruhte. Thron und Figur schienen aus einem einzigen Block gehauen.
Dorian betrachtete das steinerne Gesicht des Mannes. Es war kantig, ja, wuchtig, die Gesichtszüge waren streng, das Kinn war erhoben, der Kopf zur Seite, nach Süden gewandt, die Augen waren in unergründliche Fernen gerichtet. Das Standbild war in seiner archaischen Einfachheit erhaben. Trotz der deutlich wahrzunehmenden Witterungseinflüsse hatte man das Gefühl, daß es für die Ewigkeit erschaffen worden war.
Obwohl Dorian Hermes Trismegistos noch nie persönlich gegenübergestanden hatte und ihn nur aus Ungas Traum und den Visionen des Ys-Spiegels kannte, wußte er sofort, daß dieser steinerne Koloß den Dreimalgrößten darstellte.
„Das ist der Tempel des Hermon", hörte Dorian die Stimme des Isländers sagen. „In diesem Monument ist seine Macht verewigt."
„Hermon", murmelte Unga. „Mir ist, als würdest du in diesem Stein leben."
Das Fahrzeug kroch im Schneckentempo auf das Monument zu, das keine fünfzig Meter mehr von ihnen entfernt war.
Halldor fragte: „Soll ich noch näher heranfahren?"
In diesem Moment erscholl ein vielstimmiger Schrei, der sich an den Felswänden des Tales brach und sich als schauriges Echo fortpflanzte.
„Was war das?" fragte Unga alarmiert.
„Ich weiß es nicht", sagte Gunnarsson unsicher. „Bei meinem ersten Besuch habe ich nichts dergleichen gehört. Torisdalur bot sich mir in heiliger Stille dar."
Wieder erklang dieser unheimliche Schrei aus vielen Kehlen, lauter diesmal, durchdringender, bedrohlich.
Dorian suchte mit den Blicken die Felswände ab, doch er konnte nirgends Anzeichen von Leben erkennen.
Ein Windstoß trieb vom Thermalbach eine dichte Dampfwolke auf das kolossale Monument zu und hüllte es ein. Nebel braute sich auch über dem Kettenfahrzeug zusammen.
Im gleichen Augenblick erscholl wieder das Geschrei, und die Luft war von einem unheimlichen Pfeifton erfüllt, als würden Geistervögel über ihren Köpfen kreisen.
Dorian duckte sich unwillkürlich, als plötzlich etwas gegen das Dach des Kettenfahrzeuges prasselte. Es war, als würde eine Riesenfaust in wildem Stakkato dagegentrommeln, und als Dorian hinaufsah, stellte er fest, daß sich das Dach an vielen Stellen nach innen ausbeulte.
„Wir werden mit Felsbrocken bombardiert!" schrie Gunnarsson. „Irgend etwas…"
Seine Worte gingen in einem ohrenbetäubenden Krach unter. Das Fahrzeug wurde erschüttert, als hätte eine Granate eingeschlagen. Dorian sah, wie das Heck von einem mehrere Tonnen schweren Felsbrocken förmlich weggerissen wurde. Der Wagen wurde vorn in die Höhe gehoben.
„Wir müssen raus, bevor wir zerquetscht werden!" rief Unga.
Das Fahrzeug begann wie ein Boot bei hohem Wellengang zu schaukeln. Irgend etwas hatte sich auf dem Dach festgekrallt. Dorian vernahm
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