0992 - Der Judasbaum
seinem neuen Herrn zu, doch endlich zu kommen.
Aber Harry blieb stehen. Er wußte, daß die Veränderung des Killers erst der Beginn war. Es würde weitergehen, und Harry wollte wissen, was mit dem Mann geschehen war.
Zuerst wollte er Rocky beruhigen. »Es ist alles okay, mein Freund. Wir schaffen es schon. Du brauchst wirklich keine Angst zu haben, mein Freund. Gemeinsam sind wir unschlagbar.«
Ob Rocky bellte, weil er überzeugt worden war, wußte Stahl nicht.
Es war für ihn auch nicht wichtig, denn er wollte sehen, was mit Bruno Zacharias weiterhin geschah.
Als er sich ihm wieder zugewandt hatte, weiteten sich seine Augen vor Überraschung. Der Mann hatte sich und seine Sitzhaltung zwar nicht verändert, aber es strömte nichts von dieser widerlichen, dicken und sirupartigen Flüssigkeit nach. Was vorhanden war, blieb noch. Nichts verdampfte, nichts breitete sich mehr aus. Die Füße waren von der Lache umgeben, und auch am Gesicht klebte noch das Zeug fest. Vom Kinn fielen die letzten Tropfen nach unten. Sie sahen aus, als müßten sie sich erst von Gummibändern lösen.
Zacharias hockte auf seinem Sitzplatz. Ein Mensch oder eine Hülle? Harry konnte keine genaue Antwort geben; er dachte eher an eine Hülle, denn auch der letzte Rest der diesen Körper noch unter Kontrolle gehalten hatte, war aus ihm hervorgedrungen.
Der Geruch war einfach widerlich. Von der Lache strömte er in die Höhe. Es sonderte einen Gestank ab, in den sich auch der Blutgeruch gemischt hatte, so jedenfalls meinte Harry. Ihm war zwar nicht übel geworden, doch er stand dicht davor.
Auch der Hund hatte sich wieder beruhigt. Im Moment standen beide auf einer Insel der Stille, und nur sein Atmen und das Hecheln des Tieres waren zu hören.
Harry kümmerte sich zuerst um den Hund. »Okay, mein Freund, okay, du brauchst keine Angst zu haben. Es geht schon alles in Ordnung, glaub mir. Wir packen es.« Er schaute dem Tier in die Augen und glaubte plötzlich, in ein menschliches Augenpaar zu blicken, das zudem Trauer zeigte, als wäre Rocky voller unheimlicher Vorahnungen erfüllt, die mit dem Tod endeten.
»Ich werde mich jetzt um diesen Mann kümmern, Rocky, und dann sehen wir weiter. Ist das in deinem Sinne?« Er sprach zu dem Hund, wie zu einem Menschen.
Eine Antwort konnte er nicht verlangen, und Rocky verhielt sich auch still.
»Alles geht klar, alles wird wieder gut. Wir beide schaffen es.«
Nach diesen Worten drehte sich Harry wieder um. Er mußte sich jetzt um diesen Killer kümmern.
Zacharias saß noch immer auf demselben Platz. Auch der Blutverlust hatte ihn nicht so schwächen können, daß er umgekippt wäre.
Er hielt sich tapfer. Dennoch war Harry vorsichtig. Er näherte sich nur behutsam dieser Person, die seiner Meinung nach nur nach außen hin ein Mensch war, ansonsten aber mehr einer Hülle glich.
Er war ausgeblutet. Er mußte leer sein. Wer immer für diesen Austausch in seinem Körper gesorgt hatte, der hatte jetzt veranlaßt, daß es keinen Menschen, sondern nur eine Hülle gab. Und diese Hülle saß nach wie vor auf ihrem Platz, ohne sich zu bewegen. Harry stellte sich die berechtigte Frage, ob diese Gestalt sich auch noch so bewegen konnte wie ein Mensch.
Sollte er ihn ansprechen?
Er zögerte noch. In seinem Innern rumorte es. Er wußte nicht, ob er einen Fehler beging, aber er versuchte es dann.
»He, Bruno…«
Die Gestalt rührte sich nicht.
Auch bei zwei weiteren Versuchen traf sie keinerlei Anstalten, sich zu bewegen, und Harry sah sich gezwungen, seinen Versuch aufzugeben. Aber nur ihn, denn er hatte mittlerweile seinen inneren Schweinehund überwunden und bewegte sich auf den »Mann« zu.
Er ging sehr langsam, wie jemand, der vor einem bestimmten Ziel Furcht hatte.
Es fiel ihm schwer, den Arm auszustrecken, um den Mann zu berühren. Ein. Blick fiel auf die Hände des Mörders. Sie sahen anders aus. Nicht mehr so glatt. Jetzt war die Haut von Falten und Rissen durchzogen und erinnerte an winzige Bäche, in denen sich noch die dunkle Flüssigkeit aus dem Körperinnern festgesetzt hatte.
Die Hände lagen auf den Oberschenkeln des Mannes. In dieser Haltung wirkte er wie ein frommer Mensch, der in sein Gebet vertieft war. Harry konzentrierte sich auf die Augen.
Leere Höhlen. Kein schwarzer Sirup war zu sehen, aber Harry konnte auch nicht durch den Kopf schauen.
Dann streckte er seine Hand aus. Er näherte sich dem Gesicht des Mannes. Zacharias rührte sich nicht. Er konnte auch nichts sehen –
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