0992 - Der Judasbaum
auf den Inseln, aber man kann sie kaum als solche bezeichnen.«
»Was würden Sie denn dazu sagen?«
»Niederwald, denke ich…« Dabei blickte ich ihn an und wartete auf die Antwort.
Zuerst lächelte er. Es war ein wissendes Lächeln, und er sah auch nicht mehr so deprimiert aus. »Ja, im Prinzip haben Sie recht, Herr Sinclair. Man kann den Baum wirklich nicht mit anderen Gewächsen vergleichen, weil er eben etwas Besonderes ist. Er ist groß, hat einen mächtigen Stamm, ist Monster und Killer zugleich. Er ist einfach unaussprechlich.«
»Toll. Ich hätte ihn gern gesehen.«
Schneider überlegte. »Das kann man nicht so einfach, Herr Sinclair. Klar, Sie hätten ihn gern gesehen, aber er zeigt sich nicht sofort. Er ist raffiniert, er hält sich versteckt, und er erscheint nur dann, wenn er es für richtig hält.«
»Das müssen Sie mir genauer erklären.«
Roland Schneider seufzte wie jemand, der sich über die Fragen eines anderen ärgert. »Ich kann es Ihnen nicht genau sagen, Herr Sinclair. Man muß diesen Baum akzeptieren. Er ist nicht zu sehen. Er hält sich zurück, aber er wird erscheinen, wenn er es für richtig hält, und heute ist es soweit. Denn ich bin hier. Ich werde zu ihm gehen müssen.«
»Sie werden also nicht geholt?« fragte ich weiter, ohne zuvor über seine Erklärungen nachgedacht zu haben.
»Nein, was denken Sie denn?«
Ich konnte ein Lachen nicht unterdrücken. »Eigentlich denke ich gar nichts«, sagte ich dann. »Es ist einfach nicht möglich, weil ich ihn nicht kenne, ihn nicht gesehen habe. Aber ich muß zugeben, daß Sie mich neugierig gemacht haben.«
Der Mann ging nicht auf meine Bemerkung ein und sagte nur:
»Noch ist es Zeit.«
»Wozu?«
»Daß Sie verschwinden, Herr Sinclair. Daß Sie flüchten.«
»Tut mir leid, wenn ich Sie enttäuschen muß, aber das werde ich gerade nicht tun.«
Als er mich nach dieser Antwort anblickte, sah ich die Trauer in seinen Augen. »Das ist aber nicht gut, Herr Sinclair. Sie sind noch jung. Warum wollen Sie sterben?«
»Das will ich nicht.«
»Dann gehen Sie!«
»Später.«
Der ehemalige Bischof schüttelte den Kopf.
»Ich begreife Sie nicht. Ich kann es nicht fassen. Sie sind ein Mensch, und ein Mensch möchte leben…«
»Da bin ich keine Ausnahme. Aber ich habe, wie viele andere Menschen auch, eine Aufgabe zu erledigen. Daran sollten Sie denken. Ich bin wirklich nicht zum Spaß hier bei Ihnen erschienen. Es hat einen triftigen Grund gegeben, und dieser Grund sind Sie, Herr Bischof. Sie sind derjenige, zu dem ich gerufen worden bin, weil Sie Probleme haben. Wir konnten nur am Rande darüber reden, aber jetzt stehen wir hier, um zum Kern vorzustoßen.«
»Sie wollen nicht hören, wie?« Wieder traf mich der traurige Blick.
Ich hatte Mühe, mich auf seine Augen zu konzentrieren und nicht immer gegen die linke Wange zu schauen, deren Fleisch und Haut so verdorrt und zugleich genäßt war. Wieder fragte ich mich, wie es zu dieser Verletzung gekommen war.
»Doch, Herr Schneider, ich will leben. Ich will sogar noch lange leben, und ich lebe auch gern. Aber ich möchte trotzdem von Ihnen wissen, wo ich diesen Judasbaum finden kann. Sie haben mich an diese Stelle geführt. Sie sind mit mir in den Sumpf gefahren. Sie haben mich durch Ihre Worte wirklich neugierig gemacht, und jetzt will ich den nächsten Schritt gehen.« Ich zeigte auf die Scheibe, aber das Interesse galt nicht ihr, sondern der Landschaft. »Wir stehen hier, aber ich sehe keinen Baum, Herr Schneider.«
»Das können Sie auch nicht«, sagte er leise.
»Warum nicht?«
»Er ist noch nicht da!«
Mit dieser Antwort hatte er sich einiges bei mir verscherzt. Etwas ironisch meinte ich: »Sagen Sie nur nicht, daß er erst noch wachsen soll! Sagen Sie das nicht. Dann fühle ich mich nämlich auf den Arm genommen.«
»Nein, es gibt ihn schon«
»Wunderbar. Aber wo?«
»Vor Ihnen, Herr Sinclair. Sie sind nur nicht in der Lage, ihn zu sehen, ebensowenig wie ich.«
Diesmal unterdrückte ich das Lachen nicht. »Tut mir leid«, sagte ich dann, »aber ich kann ihn nicht sehen. Vielleicht bin ich blind, oder es fehlt mir der nötige Durchblick, aber was Sie mir da gesagt haben, kann ich nicht glauben.«
»Sie werden noch den Beweis für meine Worte bekommen«, erklärte er mir.
»Da bin ich gespannt.« Nach diesen Worten drückte ich die Tür auf. Losgeschnallt hatte ich mich schon. Mit einer Bewegung war ich draußen und stellte sofort fest, daß sich die Luft verändert
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