0996 - Die Grabkriecherin
herum. Auf dem Weg zu dieser jungen Unbekannten dachte er darüber nach, wie er sie ansprechen sollte. Suko wollte nicht mit der Tür ins Haus fallen und zunächst ein wenig vorsichtig nachhaken.
Sehr bald schon störten ihn die tief hängenden Zweige der Trauerweide. Er räumte sie zur Seite, sah die junge Frau dicht vor sich und fing an zu schnuppern, weil ihm der Geruch nach kalter Asche in die Nase gestiegen war. Sicherlich abgegeben von diesem schmalschultrigen, starr auf dem Fleck stehenden Wesen.
Das Mädchen hatte sich nicht gerührt. Nach wie vor hingen seine Arme steif an den beiden Körperseiten nach unten. Auch das Gesicht blieb unbewegt, doch beim Näherkommen konnte Suko sehr gut sehen, daß es in diesem Gesicht auch schattige Stellen gab, als wäre die Haut dort dunkel geschminkt worden. Im krassen Gegensatz dazu stand das hellblond gefärbte Haar, das durch einen Mittelscheitel geteilt wurde.
»Hi«, sagte Suko und lächelte.
Die Person schwieg.
»Ist es dir nicht zu kalt, hier draußen rumzustehen?«
Die Schmale runzelte die Stirn. Selbst das geschah langsam. Sie schien sich in einem tranceähnlichen Zustand zu befinden. Vielleicht wollte sie auch, daß Suko sie so genau betrachtete, denn auf irgendeine Art und Weise sah sie exotisch aus.
Mal abgesehen von der Kleidung, Suko fiel besonders das Gesicht auf, das tatsächlich einen Grauschimmer zeigte. Er beherrschte auch die Partie unterhalb der Augen, da malten sich dunkle Halbkreise ab, stärker eingeschminkt, so daß sie den Ausdruck der Trauer im Gesicht verstärkten. Suko hätte sich auch nicht gewundert, wenn diese Person plötzlich dunkle Tränen geweint hätte.
Er konnte jetzt auch die Kleidung genauer sehen. Die blonde Unbekannte trug einen langen, grauen oder sogar schwarzen Mantel, der sich vorn durch einen langen Reißverschluß schließen ließ. Wegen der Kälte war er bis oben zugezogen. Unter dem Mantelsaum sah Suko die Beine. Sie wurden von einem engen, ebenfalls schwarzen Stoff umschlossen, wahrscheinlich Leggings. An den Füßen trug die Person halbhohe, ebenfalls dunkle Schuhe.
Das Wesen nickte. »Jetzt, wo du mich lange genug angeschaut hast, kannst du ja wieder fahren.«
Zum erstenmal hörte Suko die Stimme. Sie klang hell, obwohl sich die Kleine um einen dumpfen Tonfall bemühte.
»Das denke ich nicht. Mir gefällt es hier. Deshalb werde ich bleiben.«
Das Augenpaar musterte Suko. Er las nichts daraus ab, aber die junge Frau schien schon überrascht zu sein, so etwas zu hören. Sie schüttelte sogar leicht den Kopf. »Du gehörst aber nicht zu uns«, sagte sie schließlich.
Suko gab ihr eine Antwort, die sie im Unklaren ließ. »Kann man es wissen?« fragte er.
»Ich weiß es.«
»Was macht dich so sicher?«
»Ich habe dich hier noch nie gesehen.«
»Das stimmt«, gab Suko zu. »Aber deine Antwort zeigt mir, daß du öfter herkommst.«
»In der Tat.«
»Und warum?«
Sie schüttelte den Kopf. »So fragt man Dumme aus, und ich bin nicht dumm.«
»Dir gefällt es hier, nicht?«
Die Kleine nickte und schob dabei einen sie störenden Zweig zur Seite. »Ja, ich habe hier so etwas wie eine Heimat gefunden. Es ist kein Platz für dich. Deshalb kann ich dir nur raten, dich wieder in deinen Wagen zu setzen und abzufahren.«
»Danke für den Ratschlag, aber könnte es nicht sein, daß ich daran kein Interesse habe?«
Die Blonde überlegte. Wieder bewegten sich die Falten auf der Stirn sehr langsam. »Das wäre aber nicht gut für dich. Es ist hier keine Gegend für Fremde.«
»Aber für dich - oder?«
»Das stimmt.«
»Warum?«
»Ich liebe es.«
»Den Friedhof?«
»Ja.«
Suko erlaubte sich ein Lächeln. »Darf ich fragen, wer den Friedhof liebt? Oder anders gesagt. Wie heißt du? Mein Name ist Suko, schlicht und einfach Suko.«
»Ich bin Mandy.«
»Nur Mandy?«
»Wie Suko.«
»Schon gut, Mandy, sorry. Du willst also dem Friedhof einen Besuch abstatten. Jetzt, kurz nach Mitternacht. Gibt es dafür einen besonderen Grund?«
Sie reckte ihr Kinn vor. »Fahr wieder«, sagte sie. »Es ist wirklich besser für dich.«
»Nein, ich werde auch auf den Friedhof gehen und mich dort umschauen. Ich liebe diese Plätze und besonders die Orte, die man zu einem unheiligen Ort gemacht hat. Da gehörst du doch sicherlich zu, Mandy? Du bist eine Person, die Friedhöfe und Gräber mag, die Tote liebt oder sie auch nur benutzt, um dann die finsteren Beschwörungen sprechen zu können, durch deren Hilfe das Böse in die Welt
Weitere Kostenlose Bücher