0999 - Der Mitternachtsfluch
habe sie gehört, und ich habe sie auch gesehen. Sie treiben sich hier herum. Sie sind schrecklich, denn sie wollen ihre Rache. Es gibt keine Chance mehr. Sie werden sich holen, was sie wollen und brauchen.«
»Wo haben Sie die Geister der Kinder gesehen? Es muß doch einen Platz geben. Hier bei Ihnen in der Wohnung, im Haus…?«
»Nein, überall, aber auch hier.«
»Im Bild ebenfalls?«
Der Reverend schluckte, bevor er sagte: »Das Bild ist schlimm, sehr schlimm sogar.«
»Ist es auch so alt?«
Felder blickte an mir vorbei. »Über zweihundert Jahre«, flüsterte er. »So hat es früher hier ausgesehen, und es hat sich nichts oder kaum etwas verändert. Das kann ich sagen, auch wenn auf dem Bild die Landschaft im Schnee versinkt. Sogar der Teich ist zu sehen, in der Mitte der Mulde. Ich weiß es, ich habe Angst, und ich weiß auch, daß die Kinder heute dorthin von anderen geführt werden. Es ist alles so gekommen, wie es damals schon aufgeschrieben worden ist.«
»Wer hat es hinterlassen, Reverend. Ist es auch ein Felder gewesen? Hat der es verfaßt?«
»Ja, einer von uns. Ein Ahnherr. Die Felders leben schon sehr lange hier. Und einer aus der Nachkommenschaft ist immer Pfarrer geworden. Damals war auch ein Felder der Reverend, als es geschah. Er hat nichts getan, er hat sich gefügt, und er hat ein schrecklich schlechtes Gewissen gehabt. Er soll oder muß seine Seele dem Bösen verkauft haben, und er wollte etwas dagegen tun. Deshalb hat dieser Graham Felder auch das Bild gemalt. Er war Pfarrer und Maler zugleich. Er hat die Kinder nicht gemalt. Ich weiß nicht warum. Das Bild hat die Zeiten überdauert, und für jeden Nachkommen war es eine Mahnung oder Warnung vor den Unbilden der Vergangenheit.« Er nickte. »Hier hat das Böse eingegriffen, und es ist nicht verschwunden. Es wurde immer wieder verdrängt.«
»Graham Felder war also der Maler«, murmelte ich. »Der Teufel muß ihm dabei die Hand geführt haben.«
»Warum?«
Ich erzählte nichts von der Verletzung seiner Tochter, sondern kam auf die gemalte Person direkt zu sprechen, die dem Betrachter den Rücken zudrehte. »Wer ist sie?« erkundigte ich mich. »Wer ist diese Frau auf dem Bild?«
»Ich weiß es nicht.«
»Sie muß eine Zeugin sein.«
»Ja…«
»Hatte Graham Felder auch eine Tochter? Denken Sie nach. Sie haben die Seiten aus dem Kirchenbuch zerfetzt. Warum? Wollten Sie nicht, daß sie jemand liest?«
»So ist es.«
»Aber wer war oder ist diese Frau? Sie gleicht doch Ihrer Tochter Grace.«
»Hören Sie auf, Sinclair.«
»Nein, ich höre nicht auf, Reverend. Ich will und muß jetzt alles wissen. Nur so kann man das Schreckliche noch verhindern. Und Sie sollten sich auf meine Seite stellen und nicht wieder feige sein und den anderen Mächten gehorchen, denn das haben Sie getan. In Ihnen steckt dieser andere Keim. Nicht grundlos hat Ihre Hand geblutet.«
»Ich bin der letzte«, flüsterte er. »Ich bin der letzte Felder. Ich habe keinen Sohn, nur eine Tochter. Es wird keinen Nachfolger mehr geben. Unser Geschlecht hier ist ausgestorben. Der Name Felder wird in Vergessenheit geraten. Und so habe ich die Aufgabe meines Ahnherrn Graham übernommen. Das ist die Wahrheit. Ich habe mich dazu bereit erklärt.«
Ich wußte, was er damit meinte, aber ich wollte es von ihm wissen. Er sollte mir die schreckliche Wahrheit sagen. »Sollen Sie die Kinder in den Tod führen? Sind Sie auserwählt worden, Reverend? Als letzter aus der Felder-Dynastie?«
»Sie wissen es doch schon«, flüsterte er. »Warum fragen und quälen Sie mich dann noch?«
Ich wollte ihm eine Antwort geben, aber Grace kam mir zuvor. Sie bewegte sich plötzlich wie ein Automat, als sie den Schreibtisch erreichte und sich mit beiden Händen auf der Platte abstützte. »Nein!« keuchte sie. »Nein, das ist nicht möglich. Das will ich nicht. Das kann nicht sein. Mein Vater ist ein Diener des Herrn. Er kann sich doch nicht dem Teufel verschworen haben.«
»Er ist der letzte Felder. Oder haben Sie noch einen Bruder?«
»Nein, das nicht.«
»Dann wird sich mit ihm der Kreis schließen.«
Grace schüttelte den Kopf. »Soll er tatsächlich die Kinder in den Tod führen? In das kalte Wasser des Teichs? John, sagen Sie es!«
»Sie haben es gehört.«
»Ja, ich habe es gehört«, flüsterte sie, und ihre Stimme klang sehr bitter.
»Und, verdammt noch mal, ich fange allmählich an, es zu glauben.« Sie stieß sich vom Schreibtisch ab und drehte sich dabei. »Aber soll ich
Weitere Kostenlose Bücher