0999 - Der Mitternachtsfluch
gab es auf der einen Seite die Lebenden und auf der anderen die Toten. Das aber ist vorbei. Jetzt gibt es beide zusammen, und die Toten haben es geschafft, die Grenze zu überwinden. Alles ist anders geworden. Es gibt die Trennungen nicht mehr.« Er faßte sie mit der noch sauberen Hand an.
»Verstehst du? Alles wurde anders.«
»Sind es die Kinder von damals?«
»Ja…«
»Und weiter? Sind es Geister -oder…?«
»Geister, Kind. Es sind die Geister, die mich schon seit langem gequält und darauf vorbereitet haben. Ich habe nichts getan. Ich habe nur gewartet. Ich hätte die anderen warnen sollen, aber dazu war ich zu feige. Und jetzt - jetzt sind sie wieder da.«
»Was wollen sie hier?«
»Rache, Tochter. Sie wollen Rache, das weiß ich.«
»Warum wollen sie Rache?«
»Sie sind nicht tot. Man hat sie damals in den Teich getrieben, um sie zu opfern. Aber sie fanden keine Ruhe. Sie lebten in irgendwelchen Zwischenreichen. Sie haben darauf gewartet, das gleiche tun zu können, was man damals mit ihnen getan hat. Sie sind schon lange hier, und sie haben die Kinder aus Paxton darauf vorbereitet. Sie saugten ihnen das Leben aus, denn sie wollten wieder stark werden, und die anderen sollten schwach sein. Erst wenn die neuen Kinder tot sind, können die alten ihre ewige Ruhe finden.«
»O Gott, das ist nicht wahr!« flüsterte Grace, die mehr als durcheinander war. »Das darf nicht so kommen, John…« Sie schielte mich schon fast flehend an.
»Fragen Sie weiter«, sagte ich nur.
»Ich kann nicht, ich…«
»Doch, Grace, Sie müssen! Wir müssen jetzt am Ball bleiben, sonst verlieren wir die Kontrolle.«
»Ja, ist gut.« Wieder wandte sie sich ihrem Vater zu. »Wann wird es genau geschehen?«
Felder ließ sich mit der Antwort Zeit. Dann sah es um seinen Mund herum aus, als wollte er lächeln, aber es war mehr ein schmerzliches Zucken der Lippen. »Noch in dieser Nacht. Mitternacht, die Tageswende. Der Heilige Abend. Da werden die Kinder bereit sein, den anderen zu folgen und zu sterben.«
»Und das weißt du alles?«
»Ich habe es dir gesagt.«
»Woher kennst du die Geschichte? Was hat dich so sicher gemacht, Vater?«
»Ich konnte es nachlesen. In den alten Büchern wurde vom Tod und vom Nichttod geschrieben. Das kam alles zusammen. Ich habe dann alles beobachten können. Schon vor Wochen begann es. Die Kinder wurden krank, verloren Kraft, und in dieser Nacht werden sie den Weg gehen, der ihnen vorgezeichnet ist. Ich bin ein Mitwisser, ich bin ein Verräter an meinem Glauben, denn ich habe an das Böse geglaubt…« Er schluchzte plötzlich auf, sein Kopf sank nach unten, dann fing er an zu weinen und ließ nicht nur eine ratlose Grace zurück, sondern auch einen ebenso ratlosen Geisterjäger.
»Das kann ich alles nicht glauben«, flüsterte mir Grace zu. »Das ist so furchtbar…«
»Ich weiß, aber wir können nicht aufhören. Ihr Vater steckt tief drin.«
»Woher wollen Sie das wissen?«
»Schauen Sie sich seine Hand an.«
»Ja und?«
»Er hat tatsächlich mit der anderen Seite paktiert«, erklärte ich. »Er schwang hin und her, und er mußte dem Bösen Tribut zollen. So ist es leider nun mal, auch wenn er sich im Zweifel befindet. Er hat Fehler gemacht, und derartige Fehler nutzt die andere Seite eiskalt aus.«
»Aber Sie wissen nicht, was genau er getan hat?«
»Nein, leider nicht.«
»Ich will ihn nicht mehr fragen, John. Ich kann es nicht.« Grace stand hilflos neben mir. »Das müssen Sie doch verstehen. Es ist einfach unmöglich.«
»Das verstehe ich sogar, aber wir dürfen jetzt nicht aufgeben und müssen weitermachen.«
»Ich nicht. Versuchen Sie es. Ich muß mit mir selbst ins reine kommen. Ich komme mir vor, als wäre ich in ein Loch gestürzt. Was ich in den letzten Minuten erfahren habe, ist einfach zuviel gewesen. Unsere Familie habe ich immer sehr hoch geschätzt, aber jetzt tun sich wahre Abgründe auf.«
»So schlimm wird es nicht sein, Grace. Ich werde Ihren Teil übernehmen.«
»Ja, das ist gut.«
Reverend Felder hatte sich wieder gefangen. Er wischte über sein Gesicht, putzte seine Nase, blieb sitzen und atmete heftig. Dabei starrte er das Bild an.
»Bitte«, sagte ich leise zu ihm. »Sie müssen zu Grace und auch zu mir Vertrauen haben.«
»Wer sind Sie?«
»Ich heiße John Sinclair, und ich bin wegen dieser Sache hier, Mr. Felder.«
»Gehen Sie auch.«
»Nein!«
»Sie kennen keine Gnade, ich weiß es.«
»Dann sind sie schon hier?«
»Ja, das sind sie. Ich
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