1 Frau, 4 Kinder, 0 Euro (fast): Wie ich es trotzdem geschafft habe
mehr Geld, seit ich für den Erstantrag müde und frustriert in das Amt geschlichen war. Dafür war mein Alltag jedoch noch viel komplizierter geworden als bisher.
Die Behördengänge raubten mir den letzten Nerv. Und Amt ist nicht gleich Amt. Ganz andere Erfahrungen als auf dem winzigen Sozialamt machte ich bei der zuständigen Wohngeldstelle in der Kreisstadt.
Zur Wohngeldstelle nahm ich Millie mit. Die Sachbearbeiterin ging von vorneherein vom Erschleichen von Sozialleistungen aus, wenn nicht gar von Betrug. (Sicherlich hatte sie einiges erlebt.) Um einen Zuschuss für unsere Wohnung zu bekommen, musste ich unzählige Fragen beantworten, die über die üblichen Antragsformulare hinausgingen. Nichts konnte sie davon überzeugen, dass hier eine Unterstützung, und sei sie nur für vier bis sechs Monate, sinnvoll sei. Stattdessen gab sie mir ein Formular mit, auf dem ich jede einzelne Ausgabe, nach Kategorien geordnet, einzutragen hatte. Es war nicht die Arbeit, das mehrseitige Formular auszufüllen, die mich frustrierte, es war die Würdelosigkeit, die darin steckt, wenn man auf die Frage zu antworten hat, wie viel Geld man unter Punkt sechs »Ernährung, für Frühstück-, Mittag-, Abendessen« oder unter Punkt sieben »Sonstige Ausgaben, für Kosmetika/Körperpflege« ausgibt. Die Preise für billigstes Graubrot, Aldi-Nudeln, H-Milch und den Verbrauch von Tampons, Binden und Duschgel in Gegenwart der Sachbearbeiterin auflisten zu müssen, ist wie ein Striptease – und dazu liegt der prüfende und geringschätzige Blick der Amtfrau wie der einer Puffmutter auf Körper und Seele der Antragstellerin.
Mein Töchterchen beobachtete alles mit großen Augen. Sie fragte mich zwischendurch leise, ob die Frau wütend auf mich sei. Ich verneinte. Warum sie denn die Papiere immer so auf den Schreibtisch knalle und mir keinen Stift leihen wolle, wo doch dahinten bei ihr ganz viele lägen. Ich wusste keine Antwort. Millie meinte, sie sei vielleicht traurig, weil ihr Haustier gestorben sei. Sie dagegen sei sehr, sehr glücklich, flüsterte sie mir zu, denn ihre kleine Farbmaus habe ja vor einer Woche Mäusebabys bekommen.
Wir hielten uns eine Stunde mit dem ganzen Papierkram in dem Büro der Dame von der Wohngeldstelle, Zuständigkeit Buchstaben L bis N, auf. Die Frau naschte zwischendurch dicke Schokoladenbonbons, Millie quollen die Augen über, sie beherrschte sich jedoch artig. Der Griff der Sachbearbeiterin in die Bonbontüte erfolgte mehrfach, Millies Augen hingen an ihren goldberingten Händen, das Fleisch der Finger bildete kleine Wulste zwischen den Schmuckstücken, die Fingerkuppen waren rötlich. Dann verfolgte Millies Blick das Auspacken des Bonbons, und ich sah, wie sie ihre Spucke hinunterschlucken musste, wenn die Frau sich das Bonbon in den Mund steckte. Für meine kleine Zuckerschnute war dies eine gute Übung, und ich war stolz, dass sie durchhielt.
Als wir beide wieder auf dem Gang waren, schüttelte Millie den Kopf. »Erst wollte ich der Frau eins von meinen Mäusebabys abgeben, damit sie wieder fröhlich wird. Aber die hat mir nix von ihren Bonbons abgegeben. Und eine Maus ist viel mehr wert als ein Schokobonbon.«
Ich verwendete wie viele andere Sozialhilfeempfänger unglaublich viel Zeit darauf, Leistungen zu beantragen, Ansprüche zu begründen, Folgeanträge auszufüllen. Kaum verdiente ich nebenbei etwas über das erlaubte Maß hinaus, fiel ich wieder raus aus den Leistungen oder musste Abänderungsanträge stellen. Das war mit dem gleichzeitigen Erledigen von Mini-Aufträgen, dem Betreuen und Erziehen der Kinder und dem ewigen Rudern, möglichst wenig Geld auszugeben, ein ermüdender Fulltimejob. Ich erkannte schnell: Es lief darauf hinaus, dass die Perspektive auf eine wirkliche Arbeitswelt da draußen schleichend durch das statische Dasein eines Leistungsempfängers ersetzt werden würde. Eine grauenhafte Zukunftsaussicht.
Ich schickte die nächste Bewerbungswelle los – dieses Mal waren es fünfzig Umschläge, mit denen ich den Briefkasten am Ende der Straße fütterte. Parallel dazu keimte in mir ein ganz anderer Gedanke, den ich zunächst als grobe Unvernunft abtat: Was wäre eigentlich, wenn ich es endlich akzeptierte, dass mich niemand fest anstellen wollte? Und stattdessen die Seiten wechseln und selbst zur Unternehmerin würde?
»Jetzt bist du vollends übergeschnappt«, meinte Renate.
In den nächsten vier Wochen trudelten fünfzig Absagen bei mir ein.
Mama, warum wollte die Frau
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