1 - Schatten im Wasser
Viel wichtiger war die Frage, welche Menge sie verwenden sollte. Sicelos Sud half, wenn man es bedachte, nur bedingt, und dann nur bei leichten Anfällen. Was hatte Papas Freund, der alte Doktor Borg, immer gepredigt? Von der Dosis hängt es ab, ob ein Mittel hilft oder den Patienten umbringt. Lag es vielleicht an der Dosis? War die von Sicelo verwendete zu niedrig? Würde eine zu hohe Dosis ihren Mann umbringen?
Sie nagte an ihrem Zeigefinger, schlich auf Zehenspitzen zum Schlafzimmer und sah hinein. Johann stöhnte und warf sich in seinem Kissen hin und her. Erbrochenes rann ihm aus dem Mundwinkel. Es hatte die Farbe von Schokoladensoße. Sie beugte sich über ihn und wischte es vorsichtig weg. Die Schatten um seine Augen waren violett geworden, die Haut war fahlgelb, schon wie die eines Toten. Ein schwacher Geruch nach verdorbenem Fleisch hing in der Luft, und der Schreck fuhr ihr heiß in die Glieder. Wie sie von Mila gehört hatte, roch so der Schweiß von Malariakranken, kurz bevor sie starben. Sie rannte wieder in die Küche.
Mit dem Mut der Verzweiflung setzte sie das zerhackte Grün mit sehr wenig Wasser im Eisentopf aufs Feuer und kochte es kurz auf. Es ergab eine weiche, marmeladenartige Masse. Einen Teil der Masse breitete sie auf einem Teller aus, prüfte sie immer wieder mit dem Handrücken, bis sie kühl genug war. Sie probierte davon und spuckte sie sofort wieder aus. Das Zeug war widerwärtig gallebitter. War die Konzentration zu hoch? Würde die positive Wirkung in höherer Dosis ins Negative umschla 501
gen? Johann stand auf dem haarfeinen Grat zwischen Leben und Tod. Ein Stoß in die verkehrte Richtung, und er würde in die ewige Finsternis stürzen. Panikwellen rollten über sie hinweg, sie fror, als stünde sie in Eiswasser.
»Bitte hilf mir, bitte hilf mir, bitte hilf mir«, murmelte sie vor sich hin, dachte nicht darüber nach, wen sie um Hilfe anrief, als sie unvermittelt intensiver Anisduft umfing. Es war wohl Einbildung, ihr verzweifeltes Verlangen nach Beistand, aber sie roch es ganz deutlich, und da wurde sie vollkommen ruhig. Es blieb ihr keine Wahl, sie musste es wagen, sonst würde Johann von ihr gehen. Schnell rührte sie einen großen Löffel Zucker unter die Mischung und flog ins Schlafzimmer, setzte sich auf sein Bett und schob ihm einen Löffel voll Brei zwischen die Lippen.
Johann protestierte, versuchte, seinen Kopf wegzudrehen, spie einen Teil wieder aus, aber sie zwang ihm die Medizin die Kehle hinunter, bis er würgte.
Zärtlich wischte sie den heruntergelaufenen Brei vom Kinn. »Du musst das essen, Liebster, es wird dir helfen«, sagte sie, konnte aber ein Zittern in ihrer Stimme nicht unterdrücken. Kaum jemals hatte sie eine so große Angst verspürt, aber es gab kein Zurück. Um den bitteren Geschmack zu verdünnen, setzte sie ihm einen Becher Wasser an den Mund. Er leerte ihn gierig und verlangte sofort nach mehr. Nach zwei weiteren Löffeln des unappetitlichen Breis durfte er wieder trinken. Als er endlich al es geschluckt hatte, fiel er stoßweise atmend in sein Kissen zurück.
Catherine betete, wie sie kaum je zuvor gebetet hatte, während Johann um sein Leben kämpfte. Sie rührte sich nicht von seiner Seite, ihr Gefühl für die Zeit verschwamm, alle Geräusche entfernten sich. Sie nahm von ihrer Umgebung nichts mehr wahr. Ihr ganzes Sein konzentrierte sich auf seinen Kampf. Irgendwann, eine Ewigkeit später, klapperten Pferdehufe über den Hof, aber das Geräusch drang kaum in ihr Unterbewusstsein.
»Holla, ist jemand zu Hause?«, ertönte eine wohlklingende Männerstimme, begleitet vom Schnauben eines Pferdes.
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Jetzt fuhr Catherine hoch, und auch Johann versuchte, sich aufzusetzen.
»Um Himmels wil en, wir bekommen Besuch, ausgerechnet heute«, sagte sie und drückte ihn zurück in die Kissen. »Ich werde sie zu Mila Arnim schicken. Es ist früh genug, sie können ihre Farm noch vor der Dunkelheit erreichen. Heute kann ich unmöglich Besucher bewirten.« Ihren Rock hebend, eilte sie hinaus.
Auf ihrem Hof standen zwei Reiter, die ihr den Rücken zuwandten, und ein dunkelhäutiger Mann. Der eine Reiter, der in eine zerlumpte Decke gehüllt war, hatte einen wilden, flammend roten Schopf, der andere trug eine Art Uniformrock und sogar Reitstiefel, seine tiefschwarzen Haare waren akkurat geschnitten und glänzten gepflegt. Das jedoch nahm sie nur flüchtig wahr, zu sehr war sie darauf bedacht, diese Leute möglichst schnell loszuwerden. »Guten Tag«,
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