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1 - Schatten im Wasser

Titel: 1 - Schatten im Wasser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Gercke
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streckte seine steif gewordenen Glieder. »Was machst du so spät allein an Deck, Catherine?«, fragte er, wobei er sie in eine Wolke würzigen Pfeifen-tabaks hüllte.
    »Ich warte auf die Juwelen der Sonne«, antwortete sie, ohne die Augen von dem Horizont zu lösen. »Jeden Abend warte ich hier. Irgendwann werde ich sie sehen. Wenn die Sonne untergeht, ganz kurz bevor sie verschwindet, öffnet sie sich, eine große grüne Träne quil t hervor und platzt, und dann regnet es
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    Mil ionen grüner Edelsteine. Sie funkeln und blitzen, dass einem die Augen schmerzen, und es muss so schön sein, dass es kaum zu ertragen ist.«
    Er hatte ein nachsichtiges Gesicht gezogen. »Na so was, und woher weißt du denn das, kleines Fräulein, he? Woher bekommst du nur immer diese Ideen, Kind?«
    »Hab ich in einem deiner Bücher gelesen. Ein Kapitän hat es in seinem Logbuch beschrieben.«
    »Seit wann liest du meine Büchern? Die sind doch viel zu kompliziert. Du kannst doch noch gar nicht richtig lesen«, hatte er streng gefragt.
    »Ach, Papa, ich kann schon lange lesen«, war ihre Antwort gewesen,
    »du hast es nur nicht gemerkt, und du musst neue Bücher kaufen, ich habe sie alle durch. Die dummen Bücher, die mir Tante Adele immer schenkt, sind doch nur für ganz kleine Kinder. Stell dir vor, sie wil mir weismachen, dass es wirklich Drachen und Zauberer gibt. So ein Unsinn, man weiß doch heute, dass das nicht stimmt.« Aufgeregt zeigte sie nach Westen. »Da, sieh doch, jetzt, du darfst nur nicht blinzeln. Sieh genau hin!«

    Just in dem Moment, als die glutrote Sonne hinter den Rand der Erde glitt, öffnete sie sich, und ein Juwel von so reinem, leuchtendem Grün blendete die beiden, das viel tiefer glühte als das Feuer des kostbarsten Smaragds. Es zerbarst, und in einer Kaskade funkelnder, grüner Tropfen sank der Feuerball unter den Horizont. Es dauerte nur einen Lidschlag lang, dann zog die Nacht auf, und bald glitzerte der sternenübersäte, nachtblaue Himmel über ihnen.
    »Die Juwelen der Sonne«, sagte sie andächtig. »Hast du sie gesehen?«, wandte sie sich in heller Aufregung an ihren Vater. »Sag, dass du sie auch gesehen hast!«
    »Ich habe sie gesehen«, bestätigte er mit großem Ernst, »und so etwas Wunderbares habe ich noch nie in meinem Leben erblickt.«
    Eine Weile weideten sie sich an dem Glitzern und Funkeln, an den Sternen, die vom Himmel fielen und auf den Wellen tanz-193
    ten, und dem Mond, der das Meer mit flüssigem Silber überzog. »Was liegt hinter dem Horizont?«, fragte sie dann ihren Vater, wie alle Kinder das irgendwann tun.
    Er legte ihr die Hand unters Kinn und blickte ihr in die Augen. »Was wünschst du dir am meisten, Kleines?«
    Das wusste sie genau. Sie sah es vor sich. Es leuchtete, es war etwas Funkelndes, etwas, das bunte Blitze aussandte, etwas unbeschreiblich Kostbares. Wie die Juwelen der Sonne. Es gab ein Wort dafür. Sie hatte es gelesen und nie wieder vergessen. Wie ein junger Vogel seine Schwingen hob sie ihre Arme über den Kopf. »Glück«, jubelte sie. »Al es Glück dieser Welt. Ich werde ausziehen und mein Glück suchen.«
    Für einen Augenblick beobachtete ihr Vater schweigend den Widerschein des verglühenden Himmelsfeuerwerks, dann lächelte er auf sie herunter. »Das ist es, was jenseits des Horizonts liegt. Dort wirst du es finden.«
    »Was ist Glück? Werde ich es wissen, wenn ich es gefunden habe?
    Wird es sein wie ein Haufen Edelsteine? Kann ich es in der Hand halten?«
    Unbeholfen strich er ihr das üppige Haar aus der Stirn. »O ja, das wirst du, und es wird funkeln und schimmern, und dein Herz wird singen.«
    Wieder lächelte er, etwas wehmütig dieses Mal. »Aber das Glück ist so selten wie die Juwelen der Sonne.«
    Catherine unterbrach ihre Geschichte und sah hoch zu ihrem Mann.
    »Das sagte er so leise, dass die Worte an mir vorbei in die Dunkelheit glitten und ich sie erst später verstand. Mit dem funkelnden Horizont vor Augen stürmte ich durch meine Kinderzeit. Die Freunde meines Vaters, die Forscher waren wie er, die Missionare, die unter den heidnischen Wilden auf Seelenfang gingen und bei denen ich auf unseren Reisen auf die Rückkehr meines Vaters aus dem Urwald warten musste, die Schiffsbesatzungen, alle schienen sich mit der Zeit an das wissbegierige kleine Mädchen gewöhnt zu haben. Keinen störte es, wenn ich stil wie ein Schatten dabeisaß. Geduldig beantworteten sie meine Fragen, behandelten mich mit gedankenloser Zuneigung wie ein

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