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1 - Schatten im Wasser

Titel: 1 - Schatten im Wasser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Gercke
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durch und sah sich um. Außer ihr war kaum jemand an Deck, nur die Wachen natürlich und einige Passagiere, die sich auf ihre Habseligkeiten gebettet hatten und noch in erschöpftem Schlaf lagen.
    Über ihr blähten sich die Segel im sanften Wind, fingen die ersten goldenen Sonnenstrahlen ein. Am Heck angelten auf Befehl des Kapitäns mehrere Matrosen. Mit Köderfischen bestückt, schleppten sie ihre Angeln im Kielwasser. Den ganzen gestrigen Tag war ein großer Hai dem Schiff gefolgt. Immer wieder war seine Dreiecksflosse aufgetaucht, stets begleitet von den aufgeregten Schreien der Passagiere. »Die Abfälle ziehen ihn an«, hatte ihr Johann erklärt.
    Catherine lehnte sich über den Bug und blickte nach Osten. Die Sonne schob sich langsam über den Rand der Welt und über-190
    schüttete die schattige Küste Afrikas mit Licht, verwandelte den Schwärm Seeschwalben über ihr in rosa Feenwesen. Delphine schwammen mit dem Schiff um die Wette, schnellten hoch in die Luft, tanzten für Sekunden auf ihren Schwänzen und lachten sie dabei an. Dann fielen sie zurück und glitten durchs klare Wasser davon. Gelegentlich zog der riesige Dreiecksschatten eines Rochens in majestätischem Flug unter ihnen dahin, und einmal sah sie in der Ferne die Fontäne eines Wales.
    Hinter ihr knarrten Schritte über die Holzplanken. Sie wandte sich um.
    Johann kam auf sie zu. Er küsste sie auf die Wange. »Hier bist du also, mein Schatz.«
    »Ich konnte nicht mehr schlafen, außerdem werde ich mit jeder Meile, die wir Natal näher kommen, immer aufgeregter.«
    »Ich werde Sicelo wecken. Er wird froh sein zu sehen, dass seine Ahnen für gutes Wetter gesorgt haben.«
    Sicelo lag, am Mast festgebunden, die Arme und Beine entspannt ausgestreckt und den Kopf auf ein Tau gebettet, auf den Planken und schlief noch fest. Johann ging hinüber zu ihm und stieß den schlafenden Zulu mit dem Fuß an. »He, Sicelo, du fauler Kerl, aufstehen! Wir sind bald zu Hause. Durban liegt eben hinterm Horizont.«
    Sicelo fuhr hoch und strampelte wie ein hilfloser Käfer auf dem Rücken, weil ihn das zweimal um Oberkörper und Mast geschlungene Seil festhielt.
    Johann lachte laut.
    »Kannst du Natal riechen?«, rief er voll überschwänglicher Freude und legte den Arm um seine Frau.
    Sie hob ihre Nase in den frischen Wind, der vom Festland herüberwehte, und schnupperte. Er roch süßlich, ein wenig wie das Heu auf sommerlichen Wiesen. Lächelnd lehnte sie sich in Johanns Arm zurück, und gemeinsam sahen sie der Sonne zu, die sich den Himmel eroberte. »Hast du schon einmal von den Juwelen der Sonne gehört?«, fragte sie leise.
    »Juwelen der Sonne? Nein, aber es klingt wunderbar. Wo findet man sie? Erzähl's mir.«
    Versonnen lehnte sie sich an ihn. »Ich war viel allein als kleines Kind, und meine einzigen Gefährten waren die Matrosen 191
    und die Bücher meines Vaters«, begann sie. »Als meine Mutter starb, entriss mich mein Vater den Klauen seiner Schwester, die eine düstere, kalte Person ist und in einem düsteren, kalten Haus lebt, und nahm mich mit auf seine Reisen.«
    Louis le Roux hatte seiner fünf Jahre alten Tochter vor ihrer Reise flugs die Grundbegriffe des Lesens beigebracht, um Ruhe vor ihren nie endenden Fragen zu haben. Er schenkte ihr einen Stapel einfacher Kinderbücher und tauchte zufrieden wieder in die Welt unter seinem Mikroskop ein. Die kleine Catherine blieb sich selbst überlassen und hatte außer einem hübschen silbergrauen Kätzchen, das sie auf alle Reisen mitnahm, keine Freunde. Also las sie. Und je mehr sie las, desto gieriger wurde sie. Bald verstand sie die kompliziertesten Texte, und ihre Welt wurde farbiger und größer.
    An Bord holte oft einer der Matrosen eine Gitarre hervor und besang seine Abenteuer mit sehnsuchtsvollen Liedern, die immer von der Weite des Meeres, dem unendlichen Himmel und den schönen Frauen in den Häfen handelten. Sie lauschte mit Inbrunst, ließ sich von den Melodien in die Ferne tragen und fühlte sich frei wie der Sturm, der die Wolken über den Himmel trieb. Dann stand sie ganz vorn am Bug, das Gesicht hochgereckt, die Arme ausgebreitet. »Ich bin wie die Luft und das Licht«, schrie sie der Sonne entgegen. »Ich bin überall, ich gehöre niemandem. Keiner kann mich festbinden.«
    Eines Abends kurz vor Sonnenuntergang stand sie auch dort. Ihr Vater, der den ganzen Tag an dem kniffligen Problem der Identifizierung einer unbekannten Käferart gearbeitet hatte, stieg aus seiner Kabine hoch und

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