1 - Wächter der Nacht
sollte.«
Sie dachte weiter nach.
»Die Aura der Frau!«, verlangte der Chef scharf. »Du erinnerst dich daran! Wirf mir den Abdruck zu!«
Er erhob die Stimme und änderte den Ton. Natürlich hörte niemand im Restaurant ihn. Doch die Mienen der Gäste verkrampften sich zu einer Grimasse, ein Kellner mit einem Tablett in der Hand stolperte, eine Weinflasche und zwei Kristallgläser fielen zu Boden.
Swetlanas Kopf schwankte hin und her – der Chef versetzte sie derart problemlos in Trance, als sei sie ein einfacher Mensch. Ich sah, wie sich ihre Pupillen erweiterten und sich ein zartes regenbogenfarbenes Band zwischen ihrem Gesicht und dem des Chefs spannte.
»Vielen Dank, Sweta«, sagte Boris Ignatjewitsch.
»Hat es geklappt?«, fragte sie verwundert.
»Ja. Du kannst dich als Magierin siebten Grades betrachten. Ich werde Mitteilung machen, dass ich die Prüfung selbst abgenommen habe. Anton!«
Jetzt sah ich in die Augen des Chefs.
Ein Impuls.
Dahinfließende Ströme einer Energie, die die Menschen nicht kannten.
Ein Bild.
Nein, das Gesicht der Freundin unseres Wilden sah ich nicht. Sondern ihre Aura, was weitaus bedeutender ist. Ineinander laufende bläuliche und grüne Schichten, wie bei einem Eisbecher, ein kleiner brauner Fleck, ein weißer Streifen. Eine recht komplizierte Aura, die man sich leicht merkte und die insgesamt Sympathie erweckte. Ich konnte es nicht fassen.
Sie liebte ihn.
Liebte ihn und grollte ihm aus irgendeinem Grund, glaubte, dass er sie nicht mehr liebe, ertrug das aber, war sogar bereit, es auch in Zukunft zu ertragen.
Wenn ich der Spur dieser Frau folgte, würde ich den Wilden finden. Und ihn dem Tribunal übergeben – und damit dem sicheren Tod.
»N-nein«, sagte ich.
Der Chef sah mich voller Mitgefühl an.
»Die Frau trifft doch keine Schuld! Sie liebt ihn, das sehen Sie doch!«
In meinen Ohren heulte eine schwermütige Musik. Kein Mensch reagierte auf meinen Schrei. Ich könnte mich über den Boden wälzen, unter fremde Tische abtauchen – sie würden die Beine zurückziehen und weiter ihr indisches Essen verputzen.
Swetlana betrachtete uns. Sie hatte sich an die Aura erinnert, konnte sie aber nicht entziffern: Das erfordert bereits den sechsten Grad.
»Dann stirbst du«, sagte der Chef.
»Ich weiß, wofür.«
»Aber denkst du nicht an die, die dich lieben, Anton?«
»Dieses Recht habe ich nicht.«
Boris Ignatjewitsch setzte ein schiefes Grinsen auf.
»Ein Held! Ach, was sind wir doch alle für Helden! Unsere Hände sind sauber, die Herzen aus Gold, die Füße noch nie durch Scheiße gewatet. Hast du die Frau schon vergessen, die von ihrem Verwandten abgeholt worden ist? Oder die heulenden Kinder? Die sind doch keine Dunklen. Sondern einfache Menschen, die wir zu verteidigen versprochen haben. Wie sehr wägen wir jede geplante Operation ab? Warum kriegen die Analytiker, die ich zwar alle naselang verfluche, durch die Bank bereits mit fünfzig graue Haare?«
So wie ich vor kurzem noch Swetlana ins Gebet genommen hatte, ihr sicher und machtvoll die Leviten gelesen hatte, so knöpfte sich der Chef jetzt mich vor.
»Die Wache braucht dich, Anton! Braucht Sweta! Aber einen Psychopathen, auch wenn er ein guter ist, braucht niemand! Mit einem kleinen Dolch in der Hand in einem Tordurchgang oder auf der Toilette Dunklen aufzulauern ist einfach. An die Folgen denkt er nicht, seine Schuld sieht er nicht. Wo verläuft unsere Front, Anton?«
»Mitten durch die Menschen hindurch.« Ich senkte den Blick.
»Wen verteidigen wir?«
»Die Menschen.«
»Das Böse an sich gibt es nicht, das solltest du doch inzwischen begriffen haben! Unsere Wurzeln liegen hier, um uns herum, in dieser Herde, die sich eine Stunde nach einem Mord voll frisst und amüsiert! Für sie musst du kämpfen. Für die Menschen. Das Dunkel ist eine Hydra, und je mehr Köpfe du ihr abschneidest, desto mehr wachsen ihr! Eine Hydra muss man aushungern, nicht wahr? Bring hundert Dunkle um – und an ihrer Stelle erheben sich tausend. Darin besteht die Schuld des Wilden! Darum musst du, du und niemand sonst, ihn finden, Anton. Und ihn zwingen, vor Gericht zu erscheinen. Freiwillig oder unter Zwang.«
Plötzlich verstummte der Chef. Stand abrupt auf. »Gehen wir, Mädels.«
Ich bemerkte schon gar nicht mehr, wenn er mich als Frau ansprach. Aufstehen und meine Tasche zu schnappen – das war eine unwillkürliche, reflexartige Bewegung.
Der Chef würde nicht ohne Grund drängeln.
»Rasch!«
Mit einem Mal
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