1 - Wächter der Nacht
dann ist er jetzt förmlich auf frischer Tat ertappt worden. Schüttel nicht den Kopf! Man hat dich gesehen, wie du über einer Leiche gestanden hast, die noch nicht kalt war. Der Leiche eines Dunklen Magiers, der auf die gleiche Weise ermordet wurde wie die bisherigen Opfer. Dich gegen die Anklage zu schützten steht nicht in unseren Kräften. Die Tagwache wird vors Tribunal gehen und verlangen, dass dein Gedächtnis gelesen wird.«
»Das ist doch ungeheuer gefährlich?«, fragte Swetlana.
»Oder? Dafür finden sie dann aber heraus, dass Anton unschuldig ist.«
»Stimmt. Und nebenbei bekommen die Dunklen alle Informationen, zu denen er Zugang hatte. Swetlana, kannst du dir vorstellen, wie viel ein leitender Programmierer der Wache weiß? Mancher Sachen ist er sich gar nicht bewusst, weil er nur kurz auf die Daten geschaut hat, sie bearbeitet und dann vergessen hat. Doch die Dunklen haben ihre Spezialisten. Und wenn Anton den Gerichtssaal voll rehabilitiert verlässt – vorausgesetzt, er übersteht die Inversion seines Bewusstseins –, hat die Tagwache Kenntnis von all unseren Operationen. Ist dir klar, was dann passiert? Die Methoden in der Suche und Ausbildung neuer Anderer, die Analyse von Kampfeinsätzen, die Netze menschlicher Informanten, die Verluststatistiken, die Personalien der Mitarbeiter, die Finanzpläne …«
Während die beiden über mich redeten, saß ich da, als ginge mich das alles nichts an. Was nicht an der zynischen Offenheit lag, sondern an der Tatsache an sich: Der Chef beratschlagte sich mit Swetlana, einer Magierin im Anfangsstadium, nicht mit mir, einem Magier potenziell dritten Grades.
Wenn man das Geschehen mit einer Schachpartie vergleichen wollte, sah das Ganze beleidigend schlicht aus. Ich war ein Offizier, ein gewöhnlicher guter Offizier der Wache. Und Swetlana ein Bauer. Aber ein Bauer, der kurz davor war, sich in eine Dame zu verwandeln.
Und was auch immer mir drohen mochte, trat für den Chef in den Hintergrund angesichts der Möglichkeit, Swetlana eine kleine praktische Lektion zu erteilen.
»Boris Ignatjewitsch, Sie wissen doch, dass ich eine Durchsicht meines Gedächtnisses nicht zulassen werde«, sagte ich.
»Dann wirst du verurteilt.«
»Ich weiß. Aber ich kann schwören, dass ich mit dem Tod dieser Dunklen nichts zu tun habe. Auch wenn ich keine Beweise dafür habe.«
»Boris Ignatjewitsch, und wenn wir vorschlagen, dass Antons Gedächtnis nur für den heutigen Tag überprüft wird!«, rief Swetlana begeistert aus. »Das wär’s doch, sie würden sich überzeugen …«
»Das Gedächtnis lässt sich nicht portionieren, Sweta. Sie werden es völlig umstülpen. Mit dem ersten Moment seines Lebens anfangen. Mit dem Geruch der Muttermilch, dem Geschmack des Fruchtwassers.« Der Chef sprach jetzt in betont strengem Ton. »Darin besteht ja das Unglück. Selbst wenn Anton keine Geheimnisse kennen würde, musst du dir klar machen, was das bedeutet, sich an alles noch einmal zu erinnern, es von Neuem zu durchleben! Dieses Geschaukel in der dunklen zähen Flüssigkeit, die Wände, die sich zusammenziehen, das Licht, das vor dir aufschimmert, der Schmerz, die Atemnot, die Notwendigkeit, seine eigene Geburt zu überleben. Und dann weiter, Augenblick für Augenblick – hast du schon einmal gehört, dass vor dem Tod das ganze Leben noch einmal rasend schnell vor deinen Augen abläuft? So ist es auch bei einer Gedächtnisinversion. Und irgendwo tief in dir weißt du, dass du das alles schon einmal erlebt hast. Verstehst du das? Dabei nicht den Verstand zu verlieren ist schwer.«
»Sie sagen das so«, brachte Swetlana unsicher hervor, »als ob …«
»Ich habe das durchgemacht. Nicht bei einem Verhör. Vor mehr als einem Jahrhundert, als die Wache erste Untersuchungen zur Gedächtnisinversion durchführte, brauchte man einen Freiwilligen. Danach dauerte es etwa ein Jahr, mich wieder in meinen Normalzustand zu bringen.«
»Und wie haben sie das geschafft?«, fragte Swetlana neugierig.
»Durch neue Eindrücke. Mit Sachen, die ich davor nicht erlebt hatte. Fremde Länder, ungewohntes Essen, unerwartete Begegnungen, neue Probleme. Und trotzdem …« Der Chef setzte ein schiefes Lächeln auf. »Manchmal ertappe ich mich dabei, wie ich mich frage: Was ist das um mich herum? Realität oder Erinnerung? Lebe ich oder liege ich auf der Kristallplatte im Büro der Tagwache, wo man gerade mein Gedächtnis abspult wie eine Garnrolle?«
Er verstummte.
Um uns herum saßen Menschen an
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