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1 - Wächter der Nacht

1 - Wächter der Nacht

Titel: 1 - Wächter der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lukianenko
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durchs Zwielicht geschlagenen Weg entlanghuschte und seine Gedanken berührte.
    Freude. Begeisterung. Jubel. Gefunden. Die Beute. Sie überlassen mir einen Teil der Kraft der Beute. Werden mich loben. Befördern. Ruhm. Werden es anerkennen. Das haben sie mir nicht zugetraut! Jetzt sehen sie, was ich kann. Werden es honorieren.
    Dennoch erwartete ich, dass wenigstens in einem Winkel seines Bewusstseins noch andere Gedanken auftauchten würden. Dass ich ein Feind bin, der sich den Dunklen entgegenstellt. Dass ich seinesgleichen getötet hatte.
    Doch nein. Nichts. Er dachte nur an sich.
    Bevor der junge Magier seine plumpen Fühler ausstreckte, fuhr ich meine aus. So. Über große Fähigkeiten verfügte er nicht, mit der Tagwache konnte er sich in der Metro nicht in Verbindung setzen. Was er aber auch gar nicht wollte. Für ihn war ich ein gehetztes Tier, noch dazu ein ungefährliches, ein Kaninchen, kein Wolf.
    Also dann, Freundchen.
    Ich verließ die Station, glitt von der Tür weg und suchte meinen Schatten. Die trübe Silhouette wölkte auf. Ich trat hinein.
    Das Zwielicht.
    Die Fußgänger wurden zu gespenstischem Dunst, die Autos krochen wie Schildkröten dahin, das Licht der Straßenlaternen verdunkelte sich, zerquetschte alles, lastete schwer. Stille, die Geräusche wichen einem dumpfen, kaum wahrnehmbaren Brummen.
    Ich beeilte mich, denn noch hatte der Magier meine Spur nicht aufgenommen. In mir spürte ich eine Kraft, mit der ich bis zum Scheitel voll gepumpt war. Vermutlich Olgas Werk. In meiner Gestalt hatte sie die alten Fähigkeiten zurückerlangt und den Körper mit Energie aufgeladen, von der sie nicht einen Funken verbraucht hatte. Der Gedanke war ihr nicht einmal gekommen, so verlockend er auch sein mochte.
    »Wo die Grenze ist, wirst du irgendwann selbst verstehen«, hatte ich Swetlana gesagt. Olga kannte diese Grenze seit langem. Und um einiges besser als ich.
    Ich lief an der Wand entlang, spähte durch den Beton hindurch in den in die Tiefe gehenden Schacht, auf die Rolltreppen. Der dunkle Fleck kam nach oben. Ziemlich schnell sogar: Der Magier rannte, flitzte über die Stufen, hatte die Menschenwelt aber trotzdem noch nicht verlassen. Haushaltete mit seinen Kräften. Nun komm schon, sieh zu.
    Ich erstarrte.
    Über den Boden glitt mir eine Wolke entgegen, die sich zusammenballte, ein Nebelklumpen, der die Züge einer menschlichen Gestalt annahm.
    Ein Anderer. Ein ehemaliger Anderer.
    Vielleicht gehörte er einst zu uns. Vielleicht aber auch nicht. Die Dunklen gehen ebenfalls nach dem Tod irgendwo ein. Bis jetzt war es einfach eine neblige, diffuse Wolke. Ein ewiger Pilger des Zwielichts.
    »Friede sei mit dir, Gefallener«, sprach ich ihn an. »Wer auch immer du gewesen bist.«
    Die aufwölkende Silhouette blieb vor mir stehen. Eine Nebelzunge schlängelte sich aus dem Körper heraus und streckte sich mir entgegen.
    Was wollte er? Die Fälle, in denen die Bewohner des Zwielichts mit lebenden Anderen in Kontakt zu treten versuchen, kann man an fünf Fingern abzählen.
    Die Hand – wenn man das denn Hand nennen kann – zitterte. Fahle Nebelfäden rissen sich los, lösten sich im Zwielicht auf und rieselten auf die Erde.
    »Ich habe nur wenig Zeit«, sagte ich. »Gefallener, wer auch immer du im Leben gewesen bist, ein Dunkler oder ein Lichter, Friede sei mit dir. Was willst du von mir?«
    Ein Windstoß schien die Wolken weißen Dunstes zu zerreißen. Der Geist drehte sich um und wies mit ausgestreckter Hand – jetzt zweifelte ich nicht mehr daran, dass er mir die Hand entgegenstreckte – durchs Zwielicht nach Nordosten. Mein Blick folgte der Richtung: Der Gefallene zeigte auf eine dünne, nadelartige Silhouette, die am Himmel glomm.
    »Der Turm, ja, das habe ich verstanden! Was soll das heißen?«
    Der Nebel zerfloss langsam. Noch einen Moment – und das Zwielicht war wieder genauso leer wie immer.
    Ein Zittern packte mich. Der Tote wollte mit mir kommunizieren. War er ein Freund oder ein Feind? Gab er mir einen Rat oder warnte er mich vor etwas?
    Es war nicht zu verstehen.
    Ich sah durch die Mauern des Metrogebäudes, durch die Erde – der Dunkle war fast oben angelangt, stand aber immer noch auf der Rolltreppe. Gut, versuche ich zu verstehen, was der Geist mir sagen wollte. Zum Turm wollte ich nicht gehen, ich hatte mir eine andere, riskante, aber überraschende Route überlegt. Es bestand also keine Notwendigkeit, mich vor dem Fernsehturm in Ostankino zu warnen.
    War es also ein Hinweis?

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