Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
1 - Wächter der Nacht

1 - Wächter der Nacht

Titel: 1 - Wächter der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lukianenko
Vom Netzwerk:
vor mir. Er fing bereits an, aus dem Zwielicht auszutreten, und die Schminke des Dunkels zerlief auf dem jungen Gesicht.
    Ich fuhr mit der Hand durch die Luft, zog ein diffuses Etwas herunter, presste dieses Ding zusammen, das durch den Raum waberte. Die oberste Schicht. Die Pause von der Gestalt des Dunklen Magiers.
    Morgen würde man ihn finden. Einen guten, prachtvollen Jungen, den alle gemocht hatten. Auf viehische Weise ermordet. Wie viel Böses hatte ich in die Welt gesetzt? Wie viel Tränen, Verbitterung, blinden Hass? Welche Kette würde sich von hier in die Zukunft ziehen?
    Und wie viel Böses hatte ich umgebracht? Wie viel Menschen würden länger und besser leben? Wie viel Tränen würden nicht fließen, wie viel Niedertracht nicht aufkommen, wie viel Hass nicht entstehen?
    Vielleicht hatte ich jetzt die Barriere überschritten, die ich nie hätte nehmen dürfen.
    Vielleicht hatte ich die nächste Grenze erkannt, die ich überwinden musste.
    Ich steckte die Pistole ins Halfter und trat aus dem Zwielicht.
    Der Fernsehturm in Ostankino bohrte sich wie eine Nadel in den Himmel.
    »Spielen wir das Spiel also ohne Regeln«, sagte ich. »Ohne jede Regel.«
    Es gelang mir sofort, ein Auto anzuhalten, sogar ohne beim Fahrer einen Anfall von Menschenfreundlichkeit heraufbeschwören zu müssen. Ob das daran lag, dass ich die Maske des toten Dunklen Magiers trug – diese sehr einnehmende Maske?
    »Zum Fernsehturm«, bat ich, während ich in den ramponierten »Sechser« stieg. »Und zwar möglichst schnell, damit ich noch reinkomme.«
    »Willst wohl noch ein bisschen Spaß haben?«, erkundigte sich der Mann hinterm Steuer lächelnd, ein etwas spröder Brillenträger, der irgendwie an den alt gewordenen Schurik aus den Komödien von einst erinnerte.
    »Und wie«, erwiderte ich. »Und wie.«

Fünf
    Der Fernsehturm war noch nicht geschlossen. Ich kaufte eine Eintrittskarte, zahlte einen Zuschlag, um ins Restaurant gehen zu dürfen, und überquerte die Grünfläche, die den Turm umgab. Die letzten fünfzig Meter des Wegs führten unter einem schlaffen Stoffdach entlang. Wozu das wohl diente? Ob von dem alten Bauwerk ab und an Beton herunterbröckelte?
    Das Stoffdach endete an einer kleinen Bude, an der man kontrolliert wurde. Ich zeigte meinen Ausweis vor, trat durch den Rahmen mit dem Metalldetektor, der übrigens nicht funktionierte. Das waren alle Formalitäten, das also waren die Sicherheitsvorkehrungen dieses strategischen Objekts.
    Jetzt packten mich Zweifel. Wie man es auch drehte und wendete, die Idee, hier herzukommen, blieb seltsam. Ich konnte nicht spüren, dass sich in der Nähe Dunkle zusammengezogen hatten. Falls doch, waren sie gut maskiert – was bedeutete, dass mir eine Auseinandersetzung mit Magiern zweiten oder dritten Grades bevorstand. Eine absolute Selbstmordaktion.
    Der Stab. Der Einsatzstab der Tagwache, eingerichtet zur Koordination der Jagd, der Jagd auf mich. Wohin hätte sich ein unerfahrener Dunkler Magier sonst wenden können, um mitzuteilen, er habe die Beute gestellt?
    Sollte ich mich zum Stab vorwagen, zu dem mindestens ein Dutzend Dunkler gehörten, darunter auch erfahrene Wachleute? Den Kopf freiwillig in die Schlinge zu stecken ist dumm, nicht heldenhaft, solange noch Chancen bestehen, mit heiler Haut davonzukommen. Und ich hoffte sehr, dass es diese Chancen noch gab.
    Von unten, von den Betonblüten der Stützpfeiler aus, machte der Fernsehturm einen ungleich stärkeren Eindruck als aus der Ferne. Etliche Moskauer dürften die Aussichtsplattform allerdings noch nie im Leben erklommen haben, nahmen sie den Turm doch nur als obligatorische Silhouette am Himmel wahr, durchaus nützlich und symbolisch, aber gewiss kein Ort, an dem man seine Freizeit verbrachte. Wie in einer aerodynamischen Röhre von ausgeklügelter Konstruktion wehte hier ein Wind, gerade noch hörbar plagte sich ein kaum fassbarer lang gezogener Laut ab – die Stimme des Turms.
    Ich blieb kurz stehen und sah nach oben, betrachtete die Gitter und Öffnungen im Mauerwerk, den von Lunkern zerfressenen Beton, sah auf die erstaunlich grazile, elastische Silhouette. Und elastisch war sie in der Tat, mit den Betonringen an gespannten Seilen. Denn in der Elastizität liegt die Kraft. Nur in ihr.
    Dann trat ich durch die Glastür. Komisch, ich hatte geglaubt, weit mehr Menschen würden den Wunsch verspüren, das nächtliche Moskau aus einer Höhe von dreihundertsiebenunddreißig Metern zu betrachten. Doch nein. Im Fahrstuhl

Weitere Kostenlose Bücher