1 - Wächter der Nacht
die sie gerettet hatten, an der Metrostation aus dem Auto gesprungen war. Maxim hörte all die Dinge über sich, mit denen er gerechnet hatte, und auch ein paar Dinge, mit denen er nie im Leben gerechnet hätte.
Dass er ein Idiot und Schürzenjäger sei, der sich um eines hübschen Gesichts und ein paar langer Beine wegen in einen Kugelhagel stürze, nahm Maxim gelassen hin. Dass er ein Schuft und Schwein sei, der in Anwesenheit seiner Frau mit einer abgehalfterten hässlichen Prostituierten flirte, bestach kaum durch Originalität. Vor allem, da er mit der Unbekannten nur ein paar Worte gewechselt hatte.
Was jetzt kam, war der reinste Schwachsinn. Die unerwarteten Geschäftsreisen wurden wieder aufs Tapet gebracht, die beiden Male, in denen er betrunken nach Hause gekommen war – und zwar richtig betrunken. Mutmaßungen über die Zahl seiner Geliebten, seine unsägliche Dummheit und seinen schwachen Charakter, der einem beruflichen Aufstieg und einem auch nur ansatzweise schönen Leben im Wege standen.
Maxim schielte über die Schulter zu ihr hinüber.
Seltsam, Lena brauste nicht einmal auf. Saß einfach nur auf dem Ledersofa vor dem riesigen Fernseher, einem Panasonic, und redete – beinah selbst von ihren Worten überzeugt.
Glaubte sie das wirklich?
Dass er eine Unmenge von Geliebten hatte? Dass er eine unbekannte junge Frau wegen ihrer attraktiven Figur rettete, aber nicht, weil Kugeln durch die Luft pfiffen? Dass es ihnen schlecht ging, sie ein erbärmliches Leben führten? Sie, die sich vor drei Jahren eine schöne Wohnung gekauft, sie wie ein Puppenhaus eingerichtet und Weihnachten in Frankreich verbracht hatten?
Die Stimme seiner Frau war fest. Anklagend. Leidend.
Maxim schnippte die Zigarette über den Balkon. Sah in die Nacht.
Das Dunkel, das Dunkel zog herauf.
Er hatte getötet, dort, in der Toilette, den Dunklen Magier. Eine der widerwärtigsten Ausgeburten im Universum des Bösen. Ein Mensch, der das Böse und die Angst mit sich bringt. Aus seiner Umwelt Energie herauspumpt, Weiß in Schwarz verwandelt, Liebe in Hass. Und wie immer hatte er, Maxim, der ganzen Welt allein gegenübergestanden.
Aber nie zuvor war ihm so etwas passiert. Dass er an einem einzigen Tag mehrmals hintereinander auf diese Teufelsbrut gestoßen war: Entweder kamen die jetzt alle aus ihren stinkenden Höhlen gekrochen oder sein Blick wurde besser.
Wie jetzt.
Maxim blickte vom neunten Stock aus herunter, sah aber nicht die nächtliche Stadt mit ihrem Lichtermeer. Die interessierte ihn nicht. War für die blinden und hilflosen Menschen. Er sah nur den Klumpen des Dunkels, der über der Erde baumelte. Nicht sehr hoch, vielleicht zwischen dem neunten und dem elften Stock.
Maxim sah eine weitere Ausgeburt des Dunkels.
Wie immer. Wie üblich. Aber warum so häufig, warum hintereinander? Schon zum dritten Mal! Zum dritten Mal innerhalb von vierundzwanzig Stunden!
Das Dunkel flimmerte, wogte, bewegte sich. Das Dunkel lebte.
Hinter ihm zählte Lena mit müder, unglücklicher und gekränkter Stimme seine Sünden auf. Sie erhob sich, kam zur Balkontür, als sei sie sich nicht ganz sicher, ob Maxim sie höre. Gut, vielleicht war das sogar besser. Dann weckte sie die Kinder nicht, falls die überhaupt schliefen. Was Maxim aus irgendeinem Grund bezweifelte.
Wenn er doch nur an Gott glauben könnte. Aufrichtig. Doch von jenem schwachen Glauben, der Maxim nach jeder Reinigungsaktion wärmte, war schon fast nichts mehr übrig. Es konnte keinen Gott in einer Welt geben, in der das Böse wuchs und gedieh.
Wenn es ihn doch gäbe oder wenn Maxims Seele wenigstens aufrichtiger Glaube erfüllte. Dann würde er jetzt hier auf diesem schmutzigen, winzigen Balkon auf die Knie fallen, die Hände gegen den bedeckten nächtlichen Himmel recken, gegen diesen Himmel recken, an dem sogar die Sterne ruhig und traurig leuchteten. Und schreien: »Weshalb? Weshalb, Herr? Das geht über meine Kräfte, ist zu viel für mich! Nimm diese Last von mir, ich bitte dich, nimm sie von mir! Ich bin nicht der, den du brauchst! Ich bin schwach.«
Doch da könnte er lange schreien! Nicht er hatte sich diese Bürde auferlegt. Nicht er würde sich von ihr befreien können. Vor ihm loderte, fackelte ein schwarzes Feuer auf. Ein weiterer Fühler des Dunkels.
»Verzeih mir, Lena.« Er schob seine Frau zur Seite und ging ins Zimmer. »Ich muss noch mal weg.«
Sie verstummte mitten im Satz, und in ihren Augen, die eben noch verärgert und beleidigt gefunkelt
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