1 - Wächter der Nacht
im Zwielicht passiert und welchen Unterschied es zwischen dem Fluch eines unbekannten Menschen und dem Fluch eines geliebten Menschen, eines Sohns, einer Mutter gibt. Doch schlimmer als der Flucht einer Mutter ist nichts.
Ganz ruhig, Anton.
Olgas Stimme brachte mich unverzüglich zur Besinnung.
Das ist zu einfach, Anton. Hast du es schon einmal mit dem Fluch einer Mutter zu tun gehabt?
»Nein«, sagte ich. Indem ich es laut aussprach, antwortete ich sowohl Sweta wie auch Olga.
»Ich bin selber schuld.« Swetlana schüttelte den Kopf. »Vielen Dank, Anton, aber daran bin ich wirklich selber schuld.«
Ich hatte schon damit zu tun, klang es aus dem Zwielicht. Anton, mein Lieber, so was sieht anders aus! Der Zorn einer Mutter – das ist ein greller schwarzer Blitz und ein großer Strudel. Doch er löst sich im Handumdrehen auf. Fast immer.
Vielleicht. Ich würde keinen Streit anfangen. Olga ist die Expertin für Flüche und hat schon einiges gesehen. Sicher, dem eigenen Kind wünscht man nichts Böses – zumindest nicht auf lange Sicht. Doch es gibt auch Ausnahmen.
Ausnahmen kommen vor, pflichtete Olga mir bei. Ihre Mutter wird jetzt gründlich überprüft. Aber … ich würde nicht auf einen raschen Erfolg hoffen.
»Swetlana«, sagte ich. »Gibt es nicht noch andere Möglichkeiten? Gibt es keine andere Behandlung für deine Mutter? Etwas anderes als eine Transplantation?«
»Nein. Ich bin Ärztin, ich weiß das. Die Medizin ist nicht allmächtig.«
»Muss es denn unbedingt die Medizin sein?«
Sie stutzte. »Was meinst du damit, Anton?«
»Die nicht-klassische Medizin«, sagte ich. »Volksmedizin.«
»Anton …«
»Ich weiß schon, Swetlana, es ist schwer, daran zu glauben«, unterbrach ich sie rasch. »Es gibt jede Menge Scharlatane, Hochstapler und psychisch kranke Menschen. Aber es ist doch nicht alles Lüge, oder?«
»Anton, zeig mir einen Menschen, der jemanden von einer wirklich schweren Krankheit geheilt hat.« Swetlana bedachte mich mit einem ironischen Blick. »Aber nicht von ihm erzählen, sondern ihn mir zeigen! Diesen Menschen und seine Patienten, am besten vor und nach der Behandlung. Dann glaube ich dir, dann glaube ich an alles. An übersinnliche Fähigkeiten, Heiler und Meister der weißen und schwarzen Magie …«
Unwillkürlich erschauerte ich. Über der Frau hing der prachtvollste Beweis für die Existenz der »schwarzen« Magie, ein Beweis, geradezu lehrbuchreif.
»Ich kann dir einen zeigen«, sagte ich. Mir fiel ein, wie man Danila einmal ins Büro geschleppt hatte. Nach einem gewöhnlichen Zusammenstoß, wie er zwar nicht jeden Tag vorkommt, der aber auch nicht besonders schlimm war. Er hatte einfach Pech gehabt. Sie wollten eine Familie von Tiermenschen festnehmen, wegen irgendeiner geringfügigen Verletzung des Vertrags. Die Tiermenschen hätten sich nur zu ergeben brauchen, und das Ganze hätte mit einer kleinen Untersuchung der Wachen sein Bewenden gehabt.
Die Tiermenschen wollten lieber Widerstand leisten. Gewiss zogen sie eine Spur nach sich – eine Blutspur, von der die Nachtwache bislang nichts wusste und nun auch nie erfahren würde. Danila ging als Erster – und ihn zerfetzten sie nach allen Regeln der Kunst. Die linke Lunge, das Herz, eine tiefe Wunde in der Leber, eine Niere rissen sie ihm ganz heraus.
Zusammengeflickt wurde Danila vom Chef, wobei fast die gesamte Wache assistierte, alle, die in dem Moment noch dazu in der Lage waren. Ich stand im dritten Kreis, unsere Aufgabe war weniger die, den Chef mit Energie zu versorgen, als vielmehr, Einflüsse von außen abzuwehren. Trotzdem linste ich ab und an zu Danila hinüber. Immer wieder tauchte er ins Zwielicht ab, mal allein, mal zusammen mit dem Chef. Bei jedem Auftauchen in der Realität sahen die Wunden besser aus. Das Ganze erwies sich als nicht sehr kompliziert, dafür aber höchst effektiv, denn die Verletzungen waren noch frisch und nicht vom Schicksal vorbestimmt. Dass der Chef Swetlanas Mutter heilen könnte, bezweifelte ich nicht im Geringsten. Selbst wenn ihr Schicksal in naher Zukunft abreißen, wenn sie bald sterben sollte. Heilen konnte er sie. Der Tod würde dann aus anderen Gründen eintreten …
»Anton, hast du keine Angst, so was zu sagen?«
Ich zuckte mit den Schultern. Swetlana seufzte.
»Jemandem Hoffnung zu schenken ist eine Frage der Verantwortung. Ich glaube nicht an Wunder, Anton. Doch jetzt bin ich bereit, an eins zu glauben. Hast du davor keine Angst?«
Ich sah ihr in die Augen.
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