1 - Wächter der Nacht
Markowitsch, sein Stellvertreter für den kommerziellen Bereich, ein sehr schwacher Magier, dafür aber der geborene Geschäftsmann, sagte: »Auf diese Weise decken wir die laufenden Kosten in vollem Umfang ab, sodass keinerlei Notwendigkeit besteht, auf … äh … besondere Formen finanzieller Transaktionen zurückzugreifen. Wenn die Versammlung meine Vorschläge unterstützt, können wir die Besoldung unserer Mitarbeiter, in erster Linie selbstverständlich von denen aus der operativen Abteilung, geringfügig anheben. Auch die Zahlungen bei zeitweiliger Arbeitsunfähigkeit sowie die Renten für die Angehörigen Verstorbener sollten … äh … leicht erhöht werden. Wir könnten uns das leisten …«
Schon komisch, dass Magier, die in der Lage sind, Blei in Gold, Kohle in Diamanten und geschreddertes Papier in funkelnagelneue Kreditkarten zu verwandeln, wirtschaftlich aktiv werden. Doch im Grunde schlägt man damit zwei Fliegen mit einer Klappe. Zum einen gibt man den Anderen eine Beschäftigung, deren Fähigkeiten so gering sind, dass sie nicht von ihnen leben könnten. Zum anderen verringert sich auf diese Weise das Risiko, das Gleichgewicht der Kräfte zu stören.
Bei meinem Erscheinen nickte Boris Ignatjewitsch mir zu.
»Witali, vielen Dank«, sagte er. »Ich glaube, die Situation ist klar und an eurer Tätigkeit nichts auszusetzen. Wollen wir abstimmen? Danke. Jetzt, wo alle da sind …«
Unter dem aufmerksamen Blick des Chefs schlich ich mich zu einem freien Sessel und nahm Platz.
»… können wir zur Hauptfrage kommen.«
Neben mir saß Semjon, der sich jetzt zu mir hinüberbeugte. »Die Hauptfrage ist die der Bezahlung der Parteibeiträge für März …«, flüsterte er mir zu.
Ich konnte mir ein Schmunzeln nicht verkneifen. Ab und zu lugte aus Boris Ignatjewitsch in der Tat der alte Parteifunktionär heraus. Mich störte das weit weniger, als wenn er sich als mittelalterlicher Inquisitor oder General a. D. gebarte, aber möglicherweise beging ich da einen Fehler.
»Die Hauptfrage ist ein Protest der Tagwache, den ich vor zwei Stunden erhalten habe«, sagte der Chef.
Ich begriff ihn nicht sofort. Die Tag- und die Nachtwache kamen einander permanent in die Quere. Jede Woche einmal reichte man Protest ein, manches wurde auf regionaler Ebene geregelt, manches vors Tribunal in Bern gebracht.
Dann ging mir auf, dass ein Protest, der eine erweiterte Versammlung der Wache nach sich zog, kein gewöhnlicher sein konnte.
»Der Kern des Protests …« Der Chef knetete sich die Nasenwurzel. »Der Kern des Protests ist folgender: Heute Morgen wurde in der Gegend der Stoleschnikow-Gasse eine Dunkle ermordet. Hier eine kurze Beschreibung des Vorfalls.«
Auf meine Knie klatschten zwei Blatt Papier, Computerausdrucke. Alle anderen wurden ebenfalls mit diesem Geschenk bedacht. Ich überflog den Text:
Galina Rogowa, vierundzwanzig Jahre … Initiierung mit sieben Jahren, die Familie gehört nicht zu den Anderen. Erzogen unter dem Patronat der Dunklen … Mentorin Anna Tschernogorowa, Magierin vierten Grades … Mit acht Jahren wird Galina Rogowa als Pantherfrau bestimmt. Mittlere Fähigkeiten …
Mit gerunzelter Stirn blätterte ich das Dossier durch. Obwohl es im Prinzip keinen Grund gab, die Stirn zu runzeln. Rogowa war eine Dunkle, arbeitete aber nicht in der Tagwache. Die Bestimmungen des Vertrags hielt sie ein. Auf Menschen machte sie keine Jagd. Niemals. Selbst von den beiden Lizenzen, die ihr zur Volljährigkeit und zur Hochzeit ausgestellt worden waren, hatte sie keinen Gebrauch gemacht. Mit Magie hatte sie sich in der Baufirma Warmes Haus hochgearbeitet und den stellvertretenden Direktor geheiratet. Sie hatte ein Kind, einen Jungen, bei dem keine Fähigkeiten eines Anderen festgestellt worden waren. Ein paarmal hatte sie ihre Fähigkeiten als Andere zur Selbstverteidigung eingesetzt, einmal einen Angreifer getötet. Doch selbst dabei war sie nicht zur Menschenfresserin geworden.
»Von solchen Tiermenschen müsste es mehr geben, nicht wahr?«, fragte Semjon. Er blätterte die Seiten durch und schnalzte mit der Zunge. Neugierig geworden, nahm ich mir das Ende des Dokuments vor.
Aha. Das Protokoll der Autopsie. Ein Schnitt in der Bluse und im Jackett, vermutlich von einem dünnen Dolch. Einem manipulierten, denn mit gewöhnlichem Eisen brachte man einen Tiermenschen nicht um … Worüber wunderte sich Semjon also?
Ha, das war’s!
Am Körper waren keine sichtbaren Verletzungen festgestellt worden.
Weitere Kostenlose Bücher