100 - Die gelbe Villa der Selbstmoerder
zurückfallen, wenn nun alles zu rasch ging. Hatte dieses schockartige Erlebnis mit Anna Bergen die Schranken niedergerissen? Ich hoffte es so sehr!
Als sie sich von mir freizumachen begann, fürchtete ich einen Augenblick, daß alles wieder vorbei war. Heftig atmend und mit unsicherer Stimme sagte sie: „Das habe ich nicht allein gemacht.“
Verblüfft fragte ich: „Wie meinst du das?“
Als hätte sie mich gar nicht gehört, fuhr sie fort: „Ich weiß nun, daß sie noch in mir ist. Irgendwie ist es ihr gelungen. Sie füllt mich aus. Es ist gut, nicht mehr so leer zu sein. Vielleicht hat sie dich eben geküßt, Hans. Aber es hat mir Spaß gemacht. Da sind plötzlich Gefühle …“ Ihre Stimme wurde leiser und schläfrig. „Ich glaube, sie weiß fast alles über mich. Ich liebe…“ Sie sagte nicht wen oder was sie liebte. So sehr ich mir auch wünschte, daß sie für mich empfand, so war ich in erster Linie dankbar, daß sie überhaupt wieder Gefühle entdeckt hatte.
Aber es war ein absurder Augenblick für Gedanken, die weiter als ein paar Stunden in die Zukunft reichten. Unser Schicksal war höchst ungewiß.
Verwundert schüttelte ich Klara. Ihr Kopf war an meine Brust gesunken. Sie lag schwer in meinen Armen. Ihre Arme hingen kraftlos um meinen Hals.
„Klara!“ rief ich in plötzlicher Angst,
Erleichtert hörte ich etwas flüstern. Es war zu undeutlich, als daß ich es verstehen konnte. Es klang schläfrig. Alarmiert schüttelte ich sie erneut, mit dem Ergebnis, daß sie mir aus den Armen zu gleiten drohte.
Ich ließ sie vorsichtig zu Boden sinken und beugte mich hinab zu ihr. Ihr Puls war schwächer, aber nicht besorgniserregend. Ihre Hände fühlten sich kalt an. Sie reagierte nicht auf meine Stimme oder meine Berührungen.
Ich kannte diesen Zustand.
Sie befand sich in Trance.
Während ich mich noch besorgt über sie beugte, sagte sie mit klarer Stimme: „Dieses Mädchen ist sehr schwach. Aber ich bin stark genug!“
Es war Klaras Stimme, aber ohne den sanften Tonfall, den ich an ihr kannte. Sie klang abschätzend und bestimmt. Wenn es noch Zweifel darüber gegeben hatte, ob Klara besessen war, oder nicht – nun waren sie beseitigt!
„Anna Bergen!“ entfuhr es mir. Ich ließ sie los, als sie sich von mir freizumachen suchte. Ich hörte, wie sie einige Schritte zurückwich. Sie atmete heftig und unregelmäßig. Ich bedauerte, sie losgelassen zu haben. In der Dunkelheit vermochte ich sie nicht zu sehen. Es beunruhigte mich plötzlich, mit einer Toten in dieser Finsternis zu sein, daß ich nicht kontrollieren konnte, ob mit Klara alles in Ordnung war. Darauf legte ich bei unseren Sitzungen immer das größte Augenmerk.
Aber ich wußte auch, daß dieser Augenblick wichtig war. Anna Bergen war der Schlüssel zu allen Rätseln. Je mehr Informationen ich besaß, desto größer waren die Chancen, heil aus dieser Situation herauszukommen.
Wenn nur genug Zeit blieb!
Ich mußte vorsichtig sein. Wie immer stand Klaras Leben auf dem Spiel. Ich durfte jedoch nicht zögern. Ich mußte den Taumel nützen, der alle Verstorbenen befiel, wenn sie Einlaß in einen lebenden Körper fanden – dieser Rausch der längst vergessenen Sinne.
„Anna Bergen“, wiederholte ich. „Können Sie mich verstehen?“
Einen Augenblick war Stille. Dann antwortete Klaras Stimme: „Ich höre. Aber ich sehe nicht. Ist dieser Körper blind?“
„Nein“, sagte ich rasch. „Es ist vollkommen finster. Wir sind in einem Kellerraum eingeschlossen. Lassen Sie mich Ihnen helfen.“
„Helfen?“ wiederholte sie. Und übergangslos fügte sie hinzu: „Diese Augen dürfen nicht blind sein. Ich brauche ihre Kraft.“
„Nein“, sagte ich beruhigend, „sie sind nicht blind. Es ist nur die Finsternis. Hören Sie mir zu. Sind Sie Anna Bergen?“
„Ja, ich bin Anna Bergen.“
Ich atmete auf. Das war die erste direkte Antwort.
„Gut“, stellte ich fest. „Sie sind tot.“
„Ja, ich bin tot.“
„Sie starben vor zwei Jahren.“
„Ich starb vor zwei Jahren.“
„Sie haben sich erhängt.“
„Nein!“ Es klang fast wie ein Schrei. Ich zuckte zusammen. Ich wartete, daß noch etwas kam, aber ich wurde enttäuscht.
„Wie starben Sie?“ fragte ich.
„Ich wurde erhängt.“
Unwillkürlich hielt ich die Luft an. „Sie wurden ermordet?“
„Ich wurde ermordet.“
Ich starrte in die Dunkelheit. Das war ein völlig neuer Aspekt. „Von wem?“ drang ich in sie. „Wer ist der Mörder?“
„Der
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