100 Dinge, die Sie einmal im Leben gegessen haben sollten
einer großen Glasschüssel in der Mitte unseres runden Tisches abgestellt, und dann geschah mindestens 15 Minuten gar nichts. Die Konversation wurde immer schleppender, weil alle auf den Inhalt der riesigen Schüssel starrten – zappelte da noch was? Ich weiß es nicht mehr – und der Dinge harrten, die da nun kommen sollten. Schließlich ergriff der Gastgeber die Initiative und forderte uns auf, zuzugreifen. Wir schöpften also die durchsichtigen, rohen Winzlinge auf unsere Teller und wollten gerade die Gabeln zum Munde führen, als ein aufgeregter Kellner auf unseren Tisch zustürzte und uns in einem spanischen Wortschwall Einhalt gebot. Wenig später kamen Rechauds auf den Tisch, und es war klar, dass die armen kleinen »Würmer« frittiert werden sollten. Ich aber hatte genug, ich war – so wie mein Boss, der angebliche Kenner – zuvor zu schnell gewesen, wollte wohl zeigen, wie tough, mutig und weltgewandt ich bin. Mir war nicht mehr nach Glasaalen. Auch nicht frittiert. Wie die rohen schmecken, kann ich nicht sagen, ich habe sie mit Todesverachtung und ohne Einsatz meiner Zähne hinuntergewürgt – Hauptsache, sie waren weg. Da gibt es wohl eine Geschmackserfahrung nachzuholen?
Ja! Die Feinschmecker der Region Bordeaux und ganz Spaniens hoffen inständig, dass der Anblick dieser weißen, wurmähnlichen Tiere uns ausreichend abschreckt, um auf eine Kostprobe zu verzichten. Mit Olivenöl und Knoblauch gebraten sind diese Tierchen ein Hochgenuss. Es können dazu auch noch etwas Chilipulver oder baskische Guindillas (eingelegte grüne Chilischoten) in die Pfanne wandern.
Glasaale sind nichts anderes als »Babyaale«, die eine kuriose Geschichte haben: Die Aallarven lassen sich vom Golfstrom 6000 Kilometer treiben. Gut ein Jahr brauchen sie für die Reise nach Europa. Ihr Instinkt gibt ihnen vor, jetzt einen Flusslauf zu finden, um im Süßwasser neuen Lebensraum zu finden. Selbst kleinere Schleusen und Wasserfälle können sie dabei überwinden. Erwachsene Aale, so heißt es, können sogar kilometerweit über feuchten Boden »schlängeln«, um sich in Seen niederzulassen. Der fast geschlechtsreife Aal macht sich fünf bis 20 Jahre später auf die Rückreise, über Flüsse ins Meer und dann bis hin zur Sargassosee südlich der Bermudas. Nach erfolgter Reproduktion sterben die Elterntiere.
So steht es in jedem Lehrbuch seit Johannes Schmidt, einem dänischen Ichtylogen, der die Aalwanderungen hin zum und zurück vom maritimen Kreißsaal 1922 erstmals erforschte. Und am Anfang steht ebenjener Glasaal, der nach seiner Wanderung in den Ästuaren Europas landet.
Glasaale heißen auf Französisch pibales oder civelles und auf Spanisch angulas. Die Bezeichnung gilt den jungen Tieren, die gerade an Europas Ufer drängen. Zwischen November und April werden sie im Ästuar, der Flussmündung der Gironde, gefangen. Dieser Fang unterliegt strengen Auflagen: Einige Fischer dürfen mit spezieller Lizenz an begrenzten Uferarealen die Glasaale mit einem Netz von weniger als 50 cm Durchmesser fangen. Profis dürfen mit einem Boot ausrücken: So ein Aalfischerboot muss kürzer als acht Meter sein und darf maximal mit 100 PS betrieben werden. Zwei Netze von maximal 1,2 Meter Durchmesser filtern das Wasser nach Jungaalen. Diese Art des Fangs gilt als besonders produktiv und ist deshalb umstritten. Selbst der Aal, früher ein Allerweltsfisch – siehe »Blechtrommel« –, ist inzwischen eine bedrohte Spezies. Und gerade die als Delikatesse bei uns verspeisten Jungaale fehlen natürlich später beim nächsten Fortpflanzungszyklus in der Sargassosee.
Bei Kilopreisen um 200 bis 300 Euro (es kann auch wesentlich mehr sein) kommt es zudem oft zu Wilderei. Zum Vergleich: Mitte der 1970er Jahre kostete ein Kilo civelles gerade mal 20 Euro. Zehn Jahre später waren es etwa 30 Euro, dann, wieder zehn Jahre später, kam der erste große Preissprung: Gut 100 Euro zahlten Großhändler für ein Kilo der fast transparenten Aale Mitte der 1990er Jahre. Im Restaurant waren sie entsprechend kostspieliger. Die Nachfrage steigt mit dem versiegenden Angebot – so ist es ja immer.
Selbst im Lough Neagh, Europas größtem Fischereigebiet für wilde (erwachsene) Aale, sind die Fischer besorgt. Dort bezog man Glasaale seit Mitte der 1980er Jahre aus dem Severn Ästuar in Großbritanniens Südwesten. Doch seit kurzem finden sich im Severn keine Jungaale mehr ein. Zwei Tonnen importierte Jungaale aus Frankreich retteten die Saison 2010.
Sicher,
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