100 Stunden Todesangst
Heimat. Zwei sehr alte Männer stritten sich um einen
Kofferkuli. Jeder wollte ihn zuerst gehabt haben.
Locke und
Tom machten sich auf den Weg zu Gleis 18.
Ihre Roller
hatten sie im Hbf-Parkhaus abgestellt, die Helme in einem Schließfach verstaut.
Es war
20.57 Uhr.
Sie
umrundeten einen Kiosk.
Dann
passierte es.
Der Mann
stieß gegen Locke.
Sie gab
einen Quietscher von sich, strauchelte und fiel Tom an die Schulter.
„Können Sie
nicht aufpassen!“
Während Tom
seine Freundin mit einer Hand festhielt, riß er mit der anderen den Mann an der
Schulter herum.
Er war gut
gekleidet: ein Herr — im blauen Kamelhaarmantel, einen weichen Hut auf den
Ohren.
Das Gesicht
war glattrasiert und schweinchenrosa — mit fleischiger Nase und schweren
Lippen.
Schweiß
bedeckte die Haut. Der entsetzte Blick ging an Tom vorbei. Der Mann keuchte mit
geöffnetem Mund.
Lieber
Himmel! dachte Tom. Der ist ja total fertig.
„Fehlt
Ihnen was?“
Er ließ den
Mann los.
„Wie? Nein.
Entschuldigung! Ich... wollte das Fräulein nicht rempeln.“
Tom nickte.
Der Mann
wandte sich ab und stolperte in Richtung Ausgang.
„Was war
denn mit dem?“ meinte Locke. „Der hat wohl eine ziemlich schlechte Nachricht
erhalten. Sieh dir die vielen Menschen hier an, Tom. Wenn man wüßte, was jeden
bewegt, wie sein Tag war, wie es morgen mit ihm weitergeht. Alles Schicksale.
Aber niemand weiß was vom andern. Alle laufen aneinander vorbei.“
„An Eugenie
von Hauch dürfen wir auf keinen Fall vorbeilaufen. Komm!“
8. Lösegeld
Jetzt war
alles aus.
Der Lärm in
der riesigen Bahnhofshalle erschien ihm wie Hohngelächter.
Menschen
hasteten an Leopold Schächt vorbei. Er sah niemanden, wußte bereits nicht mehr,
wie das hübsche Mädchen aussah, das er beinahe umgestoßen hatte — oder der
Junge.
Die
schienen gemerkt zu haben, daß mit ihm was nicht stimmte. Allen andern hier
fiel nicht auf, daß sich sein rosiges Gesicht mehr und mehr leichenfahl färbte.
Er
schleppte sich zum Ausgang.
Mit dem
Taschentuch, das er aus seinem Kamelhaarmantel zerrte, tupfte er über seine
schweißnasse Stirn.
Der
Ausgang. Schneeluft flutete ihm entgegen.
Er hörte
nicht auf die Stimme, die hinter ihm sagte: „Moment, mein Herr! Hallo, Sie!“
Eine
Berührung am Arm.
Schächt
erstarrte.
Ein
Bahnpolizist stand neben ihm. Sein Blick forschte. Die Miene drückte
Verwunderung aus. Dann schien er zu begreifen.
„Sie sind
ja völlig verstört. Aber fassen sie sich. Wir haben den Dieb.“
„Was?“
Schächts
fleischige Unterlippe bedeckte nie ganz die Zähne. Jetzt hing sie herab.
„Polizeimeister
Fench“, stellte sich der Uniformierte vor. „Sie wurden soeben bestohlen, nicht
wahr? Aber ein 13jähriger, ein helles Bürschchen, hat das beobachtet.“
„Wie
bitte?“
„Ja,
Tatsache! Christian — so heißt er — handelte wie der Blitz, stürmte zu uns ins
Wachlokal und beschrieb sowohl den Dieb wie auch Sie. Beim Nordausgang konnten
meine Kollegen den Typ fassen.“
„Beim
Nordausgang“, murmelte Schächt mit leerem Gesicht.
Er war wie
betäubt.
„Keine
Minute“, nickte Fench, „hat der Ihren Koffer gehabt. Wenn Sie jetzt bitte
mitkommen.“
Schächt
setzte einen Fuß vor den andern.
Innerlich
begann er zu zittern.
Das
Wachlokal.
Der Raum
war überheizt.
Zwei
Bahnpolizisten saßen an Schreibtischen, die Stirn an Stirn aneinander gestellt
waren.
Den Dieb
erkannte Schächt an dessen Haltung.
Der Mann
hockte auf einer Bank, zog die Schultern hoch und starrte zu Boden: ein etwa
3()jähriger Typ in schäbiger Kleidung.
Christian
genoß es, daß er Mittelpunkt war.
Seine
Sommersprossen leuchteten.
Soeben
machte er seine Aussage.
Polizeimeister
Albertini tippte das Protokoll mit zwei Fingern.
Auf seinem
Schreibtisch stand auch der Koffer, ein mittelgroßer. Er war aus schwarzem
Leder und hatte ein Kombinationsschloß.
„...beobachtete
der Schüler Christian Schulz, wie sich der Bestohlene von seinem Koffer
abwandte, zum Kiosk trat, denselben umrundete und damit aus dem Blickfeld geriet.
In diesem Moment griff der Beschuldigte nach dem Koffer und...“
Schächt
merkte, daß nun aller Augen auf ihn gerichtet waren.
Er hätte
strahlen müssen vor Freude. Aber er brachte kein Lächeln zustande.
Erwartungsvoll
sah der Junge ihn an. Schächt räusperte sich. Wortlos drückte er ihm dann die
Hand.
Himmel!
dachte er. Wie ich mich benehme! Das muß ja auffallen.
„Sie sind
Herr…“ Fench sah ihn
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