1.000 Euro für jeden
Jungen und umgekehrt die Grundlagen
für das Versprechen der Jungen, sich um die Alten zu kümmern. Wer in der Fabrik
mit Mühe sein Auskommen erarbeitete, schuf keine wirtschaftliche Basis, auf der
die Kinder aufbauen konnten. Im Gegenteil: Die Verhältnisse waren so
erbärmlich, dass diese noch ihr gesamtes Leben dafür arbeiteten, die
Großfamilie – also auch Eltern und Großeltern – über Wasser zu
halten.
Als
sich gegen Ende des Jahrhunderts die Notlage vieler Menschen so sehr
verschlimmerte, dass mit Umsturz und Revolution zu rechnen war, ergriff der
damalige Reichskanzler Otto von Bismarck zur Sicherung des sozialen Friedens
die Initiative: Mit einer staatlichen Sozialpolitik wollte er die Lage der
Arbeiter verbessern und so vor allem den Einfluss der Sozialdemokratie
zurückdrängen, die seine Macht im Kaiserreich gefährdete. Unter ihm wurden
deshalb in den 1880er Jahren nicht nur eine Kranken- und eine
Unfallversicherung, sondern auch eine Alters- und Invalidenrente eingeführt.
Die
Bismarck’sche Alters- und Invaliditätsversicherung von 1889 basierte auf dem
Prinzip der kapitalgedeckten Altersvorsorge: Jeder Arbeiter über 16 Jahre
(mit einem Einkommen bis zu 2000 Mark im Jahr) musste einen Teil seines
Einkommens als Alterssicherung zurücklegen. Im Gegenzug bekam er mit der
Vollendung des siebzigsten Lebensjahres – allerdings nur, wenn er dreißig
Jahre lang eingezahlt hatte – eine Rente bewilligt, deren Höhe sich nach
dem Verdienst eines Arbeiters richtete. Träger der Versicherung wurden die neu
geschaffenen Landesversicherungsanstalten. Diese wurden durch geteilte Beiträge
der Arbeitnehmer und Arbeitgeber und einen Reichszuschuss von fünfzig Mark im
Jahr finanziert.
Die
Bismarck’schen Sozialgesetze waren heftig umstritten, denn bislang hatte sich
der Staat völlig aus allen sozialen Angelegenheiten herausgehalten. Jeder hatte
für sich selbst sorgen müssen. Die aktuellen Diskussionen über eine gesetzliche
Krankenversicherung in den USA wurden Ende des 19. Jahrhunderts
hierzulande geführt: Die Liberalen stellten sich – ganz wie heute
noch – gegen jede Form staatlicher Unterstützung. Sie forderten Freiheit
und Selbständigkeit der Arbeiter, nach dem Motto »Hilfe durch Selbsthilfe«. Die
Unternehmer befürchteten, durch die Mehrbelastung Gewinneinbußen zu erleiden,
und die katholische Zentrumspartei klagte, dass die staatliche Hilfe die
christliche Pflicht zur tätigen Nächstenliebe unterhöhle. Dis Diskussionen
zogen sich über fast zehn Jahre hin, doch am Ende setzte Bismarck sich durch.
Unter dem unmittelbaren Eindruck eines aufsehenerregenden Streiks von
Bergarbeitern im Ruhrgebiet verabschiedete der Reichstag am 24. Mai 1889
das Gesetz über die Alters- und Invalidenversicherung. Zuvor waren Arbeiter,
wenn sie durch einen Unfall oder altersbedingt arbeitsunfähig wurden, noch in
ihrer Existenz bedroht gewesen. Nun waren 4,7 Millionen gewerbliche Arbeiter
gesetzlich versichert.
1891
wurden die ersten Renten ausgezahlt, insgesamt 265000 Mark an 152000 Rentner.
Das war wenig Geld – aber auch für sehr wenige Menschen. Die Perfidie des
Bismarck’schen Rentensystems, das ja in Wahrheit eher politische als soziale
Ziele verfolgte, lag darin, dass nur die Allerwenigsten überhaupt siebzig Jahre
oder älter wurden. Die durchschnittliche Lebenserwartung lag Ende des
19. Jahrhunderts bei 35 Jahren für Männer und 38 Jahren für
Frauen.
Die
Idee der Staatsrente hatte sich trotzdem durchgesetzt, und in den folgenden
Jahrzehnten wurde sie nur unwesentlich verändert. Die Lage des Proletariats
verbesserte sich; die Lebenserwartung der Menschen stieg; die Kinderarbeit
wurde beschränkt, Sonntagsruhe verordnet und eine Maximalarbeitszeit von elf
Stunden am Tag eingeführt. Die deutsche Sozialgesetzgebung machte Schule –
samt ihrer Überstrukturiertheit an Verordnungen, Unterverordnungen und
Ausnahmen von den Ausnahmen. Die anderen europäischen Staaten nahmen sie sich
zum Vorbild.
Es ist
in den Geschichtsbüchern nicht vermerkt, dass Menschen wegen dieser
Sozialgesetzgebung plötzlich aus allen Ländern nach Deutschland geströmt wären,
nur um in deren Genuss zu kommen. Damals galt, wie es heute noch gilt, dass
Menschen ihre Heimat in der Regel nicht freiwillig verlassen, sondern vor
Hunger, Krieg, Naturkatastrophen fliehen. Daran erinnern wir auf unseren
Veranstaltungen gelegentlich, wenn die Frage auftaucht, ob denn dann »alle zu
uns kommen« würden, wenn es
Weitere Kostenlose Bücher