1002 - Das weiße Schiff
St. Vain zog stärker an dem Bein und schrie sich die Kehle wund, um die anderen Betschiden dazu zu animieren, daß sie ihm zu Hilfe eilten.
Der Fremde faßte sich schnell. Er hob das Bein und schüttelte es kurz. St. Vain klammerte sich fest, aber das nützte nichts - er flog zur Seite und blieb halb benommen liegen. Der Fremde zerrte Lars weiter und tauchte in das grelle Licht ein, wo er für den Kapitän praktisch unsichtbar wurde.
„Komm zurück!" schrie St. Vain wütend. „Gib den Jungen heraus!"
Lange Zeit hindurch blieb es still. Der Kapitän blinzelte gegen das grelle Licht und bemühte sich vergeblich, dort irgend etwas auszumachen. Nach vielen Sekunden erklang eine Stimme, von der St. Vain gedacht hatte, daß er sie nie wieder hören würde.
„Mach dir keine Sorgen um mich", sagte Lars O'Marn. Seine Stimme kam direkt aus der Quelle des grellen Lichtes.
„Aber du bist krank", stieß St. Vain hervor. „Du wirst sterben, wenn Doc Ming sich nicht um dich kümmern kann."
Das helle Gelächter des Jungen hallte unheimlich durch den schweigenden Dschungel.
„Ich werde leben!" sagte Lars. „Doc Ming hat mir meinen Verstand gerettet, indem er mich in das Wasser legte. Aber meine Heilung wird der Alte vom Berg besorgen."
St. Vain starrte fassungslos in die formlose Helligkeit, bis ein bohrender Schmerz seine Stirn durchzuckte. Stöhnend blickte er zu Boden.
„Der Alte vom Berg!" wiederholte er tonlos. „Ist es das Ding, das dich aus dem Teich geholt hat?"
Er erhielt keine Antwort. Das Licht erlosch. Die Finsternis erschien dem Kapitän undurchdringlicher als je zuvor. Er hörte das leise Summen, das vom Boden aufstieg und sich irgendwo zwischen den hohen Baumkronen verlor.
„Kehrt in euer Dorf zurück!" sagte eine Stimme, die auf unbestimmbare Weise künstlich klang. „Fürchtet euch nicht vor den Fremden. Sie werden euch nichts tun."
„Woher kommen diese Fremden?" fragte St. Vain wie betäubt. „Warum ist die SOL nicht gelandet? Oder ist es doch die SOL? Alter vom Berg - antworte mir!"
Er wartete. Mit jeder Sekunde, die verging, wuchs in ihm die Enttäuschung. Der Alte vom Berg antwortete nicht. Das Summen entfernte sich und wurde schließlich so leise, daß St. Vain nicht unterscheiden konnte, ob er es wirklich noch hörte, oder ob er sich nur einbildete, es noch wahrzunehmen.
„Wir müssen ihm gehorchen", hörte er Keripha hinter sich murmeln. „Wir werden in das Dorf zurückkehren, sobald es hell genug ist."
Sie sagte wirklich „Dorf", nicht „Schiff", wie es sich gehört hätte.
Zu jedem anderen Zeitpunkt hätte St. Vain seiner Gefährtin eine scharfe Rüge wegen dieses Fehlers erteilt. Jetzt war er dazu einfach nicht in der Lage.
5.
Doc Ming hatte seit langer Zeit keine Gelegenheit mehr gehabt, in der für Chircool typischen Finsternis durch den Dschungel zu wandern. Vor vielen Jahren war er ein Jäger gewesen, und er hatte solche Unternehmungen als selbstverständlich empfunden.
Wenn der Sommer sich dem Ende zuneigte, dann konnte man nur noch in der Nacht auf Beute hoffen.
Aber gerade in solchen Nächten ereigneten sich auch die meisten Unfälle. Nicht nur die Betschiden warteten auf diese seltsamen Stunden, in denen es regnete und in denen man dennoch die Sterne zu sehen vermochte. All das kleine und große Raubvolk war in solchen Nächten unterwegs. Die Jäger wußten das, aber genauso gut wußten sie auch, daß jeder dieser Nächte die Regenzeit folgen konnte. Dann strömte wochenlang Wasser vom Himmel. Der Dschungel verwandelte sich in einen endlosen Sumpf. Man konnte in dem wäßrigen Boden keine Spuren mehr ausmachen. Die Jagd wurde zu einem Glücksspiel. Pflanzen, die während des Sommers harmlos waren, sonderten plötzlich tödliche Gifte ab. Jene Tiere, die sich während der trockenen Jahreszeit von diesen Pflanzen ernährten und ein friedliches Herdendasein führten, wurden zu reißenden Bestien, denn die meisten zehnbeinigen Bewohner von Chircool waren nicht auf eine bestimmte Form von Nahrung spezialisiert.
Aus diesen und vielen anderen Gründen hatte der oberste Heiler der Betschiden an seinem Platz zu bleiben. Wenn er sich - um seine Kenntnisse über Gifte, Parasiten und ähnliche Gefahren zu vertiefen - in den Dschungel begab, dann wurde er normalerweise von den besten Jägern des Dorfes begleitet und beschützt. Die Heiler waren fast ausnahmslos ehemalige Jäger. Sie brauchten Jahrzehnte, um sich das nötige Wissen anzueignen, es sei denn, sie
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