1002 - Das weiße Schiff
töricht seine Gedanken gewesen waren: Gegen diese Helligkeit ließ sich nur allzu deutlich erkennen, daß die scheinbar so dichte Wand unzählige Lücken aufwies, darunter Löcher von solcher Größe, daß ein erwachsener Betschide hätte hindurchkriechen können. Und jenseits dieser geradezu lächerlichen Karikatur einer Wand befand sich etwas, das ein so grelles Licht erzeugte, daß die Betschiden fast glaubten, die Sonne selbst sei zu ihnen herabgestiegen.
St. Vain hatte große Mühe, sich auf die Pflichten zu besinnen, die sein hohes Amt mit sich brachte. Er bot seine ganze Willenskraft auf und kroch so leise wie möglich ein kurzes Stück zur Seite, bis er nicht mehr direkt in die Lichtquelle hineinsah. Seine Augen tränten, dennoch nahm er deutlich wahr, daß sich etwas am Rand des Lichtkegels bewegte.
Zuerst glaubte er, einen der Fremden zu sehen, denn er sah verschwommen, daß das, was dort durch das Gras glitt, vier Beine hatte. Aber allmählich kamen ihm dann doch Zweifel. Er konnte den Körper und den Kopf des Wesens, das sich jetzt der im Wasser liegenden Matte näherte, niemals genau erkennen, und manchmal meinte er, daß der Fremde gar keinen Kopf im üblichen Sinn hatte. Aber er sah immer noch genug, um zu erkennen, daß es sich nicht um die schwarzbepelzten Vierbeiner handelte, die mit dem weißen Schiff gelandet waren.
Der Fremde erreichte die Matte und blieb stehen. Eine quäkende Stimme ertönte und sagte etwas in einer fremden Sprache. St. Vain hätte nicht sagen können, woher seine Überzeugung kam, aber er war sicher, daß diese Sprache nichts mit dem gemeinsam hatte, was die Fremden aus dem weißen Schiff von sich gaben. Der Fremde selbst schien der quäkenden Stimme zu antworten. Seine Sprache war seltsam pfeifend. Ein paar Mal ging es so hin und her, dann beugte der Fremde sich zu der Matte herab.
St. Vain sah das Wesen noch immer nur undeutlich, aber was er sah, reichte bereits aus, ihn in Angst und Schrecken zu versetzen.
Der Fremde hatte wirklich keinen Kopf. Er besaß vier Beine, zwei Arme und einen seltsam flach wirkenden Körper. Oben auf diesem Körper saßen Auswüchse, die den buschigen Fühlern einiger kleiner Nachttiere ähnelten.
Dieses alptraumhafte Ding zog Lars aus dem Wasser. Es mußte sich dabei gehörig anstrengen. Als es den Jungen draußen hatte, zerrte es ihn durch das dichte Gras auf den Mittelpunkt des Lichtkegels zu.
Lars O'Marn war ein Urenkel des Kapitäns. Die Verhältnisse auf Chircool brachten es mit sich, daß sehr viele Kinder geboren wurden, von denen aber nur wenige überlebten.
Obwohl sich jeder Betschide für alle seine Artgenossen verantwortlich fühlte, war die Bindung an die Familie besonders eng. In dem Augenblick, in dem St. Vain begriff, daß dieses fremde Ding den Jungen davonschleppen wollte, brannte bei dem Kapitän des „Schiffes" eine Sicherung durch.
Er vergaß seine Angst. Er vergaß sogar das grelle Licht, und er verschwendete keinen Gedanken mehr daran, daß sein Gegner möglicherweise über Waffen verfügte, von denen ein Betschide sich keinen Begriff machte.
St. Vain, der die Jagd als notwendiges Übel betrachtete, die Jäger selbst insgeheim als rückentwickelte Betschiden ansah und mit Vehemenz die Theorie vertrat, daß die Bewohner des „Schiffes" sich aller Gewalttaten zu enthalten hatten, wenn sie jemals wieder in die Lebensgemeinschaft der Solaner aufgenommen werden wollten - dieser St. Vain stürzte sich mit der Wildheit eines angeschossenen „Jaguars" auf den Fremden. Er stieß dabei einen Kampfschrei aus, der auch einem Neandertaler zur Ehre gereicht hätte.
Es wurde eine harte Landung. Irgendwie hatte der zugleich runde und flache Körper des Fremden in St. Vain den Eindruck nachgiebiger Weichheit hinterlassen. Als er aber gegen den Fremden prallte, hatte er das Gefühl, gegen massiven Fels geraten zu sein.
Er verlor für einen Augenblick das Bewußtsein, kam aber sofort wieder zu sich. Vor seinem Gesicht sah er eines der vier Beine, auf denen der Fremde sich fortbewegte, und unter dem Körper hindurch blickte er geradewegs in Lars O'Marnes Augen.
Der Junge war nicht länger teilnahmslos. Er nahm genau wahr, was um ihn herum geschah, und die Angst, die ihm zum Verhängnis geworden war, hatte ihn voll erfaßt. Aus den Augen des Jungen sprach der nackte Wahnsinn.
Verzweifelt packte St. Vain eines der fremdartigen Beine und hielt es fest. Für einen Augenblick geriet der Fremde aus dem Takt und drohte zu stolpern.
Weitere Kostenlose Bücher